Knochenhaus (German Edition)
auch sonst ist sie eine willkommene Abwechslung zu Clough und den übrigen Kerlen. Doch Judy sieht auch ganz genau, dass Tanya ihre direkte Konkurrentin ist.
Judy ist seit drei Jahren bei der Polizei. Sie hat studiert (was sie Nelson gegenüber allerdings nur selten erwähnt) und damit die sogenannte «direkte» Laufbahn zum Erfolg eingeschlagen. Und als sie schon nach achtzehn Monaten zur Kriminalpolizei versetzt wurde, hatte sie das Gefühl, tatsächlich voranzukommen. Sie liebt die Ermittlungsarbeit und kommt gut mit Nelson aus, der zwar ziemlich viel bellt, aber praktisch nie beißt. Er mag sich oft anhören wie ein unverbesserlicher Chauvi, doch in der Praxis behandelt er die Frauen in seinem Team gleichberechtigt und setzt sie nicht grundsätzlich nur auf Fälle an, bei denen es um Vergewaltigung oder Tätlichkeiten in der Ehe geht, wie das andere DCIs gern praktizieren. Und trotzdem hat Judy das Gefühl, dass ihre Karriere stagniert. Sie ist immer noch Detective Constable, obwohl sie doch schon längst Detective Sergeant sein müsste, wie Clough. Sie weiß, dass Nelson über die nötigen Mittel für eine weitere Sergeant-Stelle verfügt – warum also verweigert er ihr die Beförderung? Bevor Tanya Fuller aufgetaucht ist, konnte Judy sich zumindest noch damit trösten, dass sie die beste Kandidatin für den Posten war. Doch jetzt kommt plötzlich Tanya von einer anderen Dienststelle hereingeschneit, mitsamt ihren klugen Fragen und den bewundernden Blicken, mit denen sie an Nelsons Lippen hängt. Was, wenn Nelson sie Judy vorzieht? Das könnte sie nicht ertragen. Falls das passiert, wird sie die Brocken hinwerfen und Buchmacherin werden, wie ihr Vater.
Eigentlich soll Judy Tanya bei der Suche nach den zahnärztlichen Unterlagen helfen, doch stattdessen geht sie noch einmal sämtliche Notizen zu dem Fall durch. Sie ist überzeugt, dass sie alle etwas übersehen. Und wenn sie es entdeckt, kann sie es Nelson, Tanya und den anderen so richtig zeigen.
Beiläufig skizziert sie einen Stammbaum der Familie Spens. Sie hat Edward Spens einmal bei einem Polizeiempfang kennengelernt und fand ihn ausgesprochen attraktiv, lässt sich davon aber nicht in der tiefen Überzeugung erschüttern, dass seine Familie etwas zu verbergen hat.
Judy starrt lange auf den Namen Rosemary Spens. Sie hat Nelsons Stimme noch im Ohr, den neutralen Ton, den er bei Dienstbesprechungen verwendet: Sir Roderick behauptet, sie wäre ‹ein wahrer Engel› gewesen, aber irgendwie hatte ich den Eindruck, dass er sie eigentlich gar nicht sonderlich gut kannte. Wahrscheinlich wurde er vom Kindermädchen großgezogen. Das ist es. Sie zieht die Fallakte hervor und blättert darin, bis sie das Blatt mit dem Volkszählungsergebnis von 1951 gefunden hat. Sie erinnert sich noch genau, wie Clough es ihnen vorgelesen hat: Christopher Spens, Rosemary Spens und die Kinder Roderick und Annabelle. Doch natürlich hat Clough wie immer etwas ausgelassen, was Judy nun durch Nelsons beiläufige Bemerkung wieder in den Sinn gekommen ist. Es müssen ja noch mehr Personen im Haus gelebt haben: Dienstboten, eine Köchin und mit Sicherheit auch ein Kindermädchen. Und tatsächlich, es stehen noch vier weitere Namen auf der Ergebnisliste:
Lily Wright – Köchin
Susan Baker – Dienstmädchen
Edna Dawes – Dienstmädchen
Orla McKinley – Kindermädchen
Judy liest den letzten Namen wieder und wieder.
Clough, der sich gerade das letzte Stück eines dicken Donut in den Mund geschoben hat, steht in einer Steinmetzwerkstatt. Die Luft ist dick von Staub, und aus dem Nebel ragen körperlose Umrisse hervor: Säulen, Kaminsimse, hier und da eine halbfertige Statue, Pferde und Engel und griechische Göttinnen. Clough bahnt sich sorgsam einen Weg zwischen den Steinfiguren hindurch und muss an ein Buch aus seiner Kindheit denken, in dem eine Hexe all ihre Feinde zu Stein erstarren ließ und sie dann bei sich zu Hause aufstellte. Daran erinnert ihn das hier. Und natürlich an einen Friedhof.
Der Steinmetz war ein ziemlicher Glücksgriff: Es ist noch dieselbe Firma, die 1956 den Torbogen für Christopher Spens gebaut hat. Der damalige Steinmetz ist längst im Ruhestand, aber sein Sohn hat die Werkstatt übernommen und sich bereit erklärt, seinen alten Vater dorthin zu bringen, damit er mit der Polizei reden kann. Und so arbeitet sich Clough jetzt langsam in den hinteren Teil des riesigen Raumes vor, wo sich die tröstlichen Klänge eines Radios mit dem Geruch nach
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