Knochenhaus (German Edition)
einfach begraben und bin weitergezogen. Wahrscheinlich wird Nelson sie jetzt ausgraben. Dürfte ein ziemlicher Schock für die armen Grundschüler werden.» Er lacht bitter.
«Und wie ging es mit dir weiter?»
«Ach, ich habe es sogar bis nach Irland geschafft, aber als ich meinem Vater dann gegenüberstand, war der voll wie eine Strandhaubitze und hatte keine Ahnung, wer ich bin, also habe ich mich nicht lange bei ihm aufgehalten. Eine Zeitlang bin ich nur herumgestreunt, dann wurde ich von einer Gruppe Zigeuner aufgelesen. Sie waren gut zu mir. Ich habe ihnen mit den Pferden geholfen, sie waren viel auf Pferdemärkten unterwegs und hatten selber Ponys, die immer frei liefen, sogar mitten in der Stadt. Die Kinder besuchten meistens die örtlichen Schulen. Ich bin mit ihnen hingegangen und habe wieder angefangen, mich für Geschichte zu interessieren. Auf einer Schule war ein Lehrer, der mich mochte, der hat mich überredet, zu bleiben und meinen Abschluss zu machen. Ich durfte bei ihm und seiner Familie wohnen. Noch mehr Leute, die gut zu mir waren. Damals nannte ich mich bereits Max Grey. Ich habe sämtliche Abschlussprüfungen bestanden und schließlich in Sussex mein Studium aufgenommen. Und damit endet die Geschichte.»
«Wieso bist du hierher zurückgekommen?», fragt Ruth.
«Na, hauptsächlich wegen der römischen Ausgrabung. Schließlich bin ich ja immer noch Archäologe. Aber wahrscheinlich wollte ein Teil von mir auch das Kinderheim wiedersehen. Ich wollte es sehen, hatte aber auch Angst davor. DCI Nelson meinte, dass Ausreißer fast immer an den Ort zurückkehren, von dem sie ursprünglich ausgebüxt sind. Da bin ich wohl keine Ausnahme. Als du mir dann erzählt hast, dass du auf dem Grundstück Ausgrabungen leitest, konnte ich es erst gar nicht fassen. Ich wollte dir alles erzählen, Ruth. Das wollte ich wirklich.»
Er sieht sie mit ernstem Blick an. Martin Black ist verschwunden, und Max Grey ist wieder da, sanft, leise und kein bisschen bedrohlich.
«Schon gut», sagt Ruth. «Das muss ja alles … furchtbar für dich gewesen sein.» Sie merkt selbst, dass das der Situation nicht mal im Ansatz gerecht wird.
«Anfangs habe ich es einfach nicht fertiggebracht, das Grundstück zu besuchen, aber dann konnte ich doch nicht mehr widerstehen. Wahrscheinlich wollte ich es einfach noch ein letztes Mal sehen. Und als dann plötzlich Pater Hennessey vor mir stand …»
«Ich glaube, er hatte dich immer sehr gern.»
«Er hat viel für mich getan. Ich war damals auf dem besten Weg zum jugendlichen Straftäter. Ich habe mich ständig geprügelt, geflucht und geklaut, aber er wollte mich nicht aufgeben. Er hat immer daran geglaubt, dass ich es schaffe, doch noch etwas aus mir zu machen.»
«Da hatte er doch auch recht», sagt Ruth.
«So, meinst du?» Sie sehen einander in die Augen, und plötzlich ist die Situation ungeheuer aufgeladen, voller Traurigkeit und Verständnis und noch etwas anderem, völlig Unerwartetem, was Ruth zum Erröten bringt. Sie wendet den Blick ab.
«Ruth?»
Da lässt die Türklingel den Zauber verpuffen. Draußen steht Judy Johnson mit einer kleinen Reisetasche in der Hand.
«Hallo, Ruth. Ich soll ein paar Nächte hier bleiben.»
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25
Als Nelson am nächsten Morgen zur Arbeit kommt, warten die DNA-Ergebnisse bereits auf seinem Schreibtisch. Noch mit dem Kaffee in der Hand sieht er sie durch. Sie beweisen ohne den geringsten Zweifel, dass Roderick Spens mit der Leiche unter der Türschwelle verwandt ist. Mehr noch: Sie offenbaren sogar, dass Roderick und das tote Kind einen männlichen Vorfahren teilen. Stirnrunzelnd blickt Nelson auf das Blatt in seiner Hand und denkt angestrengt nach.
Das Auftauchen von Martin Black war wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Trotz all seiner Theorien darüber, dass Straftäter immer wieder an den Ort des Verbrechens zurückkehren, hat Nelson doch nie ernsthaft damit gerechnet, Martin Black zwischen den Trümmern seines einstigen Kinderheims herumirren zu sehen. Und nie im Leben wäre er auf die Idee gekommen, diesen arroganten Archäologen, der Ruth neuerdings auf Schritt und Tritt folgt, mit dem verschwundenen Zwölfjährigen in Verbindung zu bringen. «Menschen werden älter», hat er seinem Team die ganze Zeit eingeschärft. «Wir suchen also keinen kleinen Jungen, sondern einen Mann Mitte, Ende vierzig.» Und trotz alledem erscheint der Abstand zwischen Doktor Max Grey und dem verzweifelten Ausreißer Martin Black jetzt
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