Knochenhaus (German Edition)
einen Schluck Wein. Seine Hände zittern.
«Wie war es denn auf dem Polizeirevier?», will Ruth wissen.
«Oh, Nelson hat meine Aussage aufgenommen. Die ganze Prozedur hat Stunden gedauert, mit Fingerabdrücken und allem, was dazu gehört. Mit Pater Hennessey haben sie auch geredet, aber er durfte nicht dabei sein, als ich verhört wurde.»
«Und worüber haben sie dich verhört?»
«Über mein Verschwinden. Schließlich werde ich ja seit mehr als dreißig Jahren vermisst. Und über Elizabeth.»
Als er den Namen ausspricht, versagt ihm die Stimme, und er reibt sich die Augen.
Ruth fragt sanft nach. «Du hast gesagt, sie ist tot?»
Max hebt wieder den Kopf, und sein Blick wird plötzlich hart. Er starrt Ruth an, als würde er durch sie hindurchsehen.
«Sie ist gestorben», sagt er, spricht dabei aber nicht zu Ruth, sondern zu jemand anderem, vielleicht sogar zu sich selbst. Und irgendetwas sagt ihr, dass es der zwölfjährige Martin Black ist, der da spricht.
«Wir wollten zu unserem Vater. Ich hatte alles genau geplant. Die Adresse hatte ich aus Pater Hennesseys Unterlagen. Er ließ mich immer in sein Büro. Ich hatte auch genug Essen geklaut, dass wir eine Zeitlang auskommen würden. Sogar ein Zelt hatte ich, aus dem Keller – Pater Hennessey ging im Sommer manchmal mit uns zelten. Es war alles bereit, aber Elizabeth … Sie wollte eigentlich nicht fort. Es gefiel ihr gut im Kinderheim, sie mochte Schwester James, die die Kleinen betreute. Sie fühlte sich dort geborgen. Aber mich hatte sie dann doch lieber.» Einen Moment lang klingt er fast triumphierend. «Und weil sie mich so lieb hatte, ist sie mitgekommen. Nur ihren verflixten Stoffhund wollte sie unbedingt mitnehmen.»
Ruth sieht Max’ Bett auf dem Boot wieder vor sich: den lateinischen Klassiker auf dem Nachttisch und das Stofftier auf dem Kopfkissen. Elizabeths Hund.
«Anfangs ging auch alles gut. Die erste Nacht haben wir in einem leerstehenden Lagerhaus verbracht, dann haben wir uns auf den Weg nach London gemacht. Ich hatte unsere alten Schuluniformen eingepackt, weil ich mir dachte, dass sie nach Kindern in Schuluniform nicht suchen würden. Und ich hatte Glück. Eine Schule machte an dem Tag gerade einen Ausflug nach London, da haben wir uns einfach drangehängt. Wir sind niemandem aufgefallen. Aber als wir in London waren, fing es an.»
«Was fing an?»
«Elizabeth wurde krank. Sie hatte häufig Halsschmerzen und Erkältungen, und anfangs dachte ich, es wäre wieder so etwas. Ich habe Medizin für sie geklaut, speziell für den Hals, und eine Zeitlang schien es ihr besserzugehen. Wir hatten uns außerhalb von Swindon in einem leeren Schulhaus eingenistet. Wir wollten ja nach Westen, nach Holyhead. Mein Gott, diese Schule! Auf dem Schulhof war ein großes Spielbrett auf den Boden gemalt, mit Leitern und Schlangen, und Elizabeth hatte schreckliche Angst davor. Sie hat geglaubt, die Schlangen kommen sie nachts holen. Wir schliefen im Lehrerzimmer, da gab es Sofas. Aber dann bekam sie Fieber und hat fürchterlich geschrien. Es war, als würde sie mich nicht mehr erkennen. Sie hat immer nach unserer Mutter gerufen.»
Seine Stimme ist fast völlig tonlos geworden. Er sitzt vornübergebeugt, den Kopf in den Händen vergraben. Flint hat sich verzogen. Und auch Ruth will eigentlich nichts weiter hören. Die Vorstellung, dass die fünfjährige Elizabeth womöglich in dieser verlassenen Schule gestorben ist, wo nur ihr zwölfjähriger Bruder bei ihr war, ist so schrecklich, dass es fast nicht zu ertragen ist. Und wenn sie es schon kaum ertragen kann, wie muss es dann erst für Max sein, der dieses Geheimnis all die Jahre mit sich herumgetragen hat? Gleichzeitig hat sie das Gefühl, dass es gut für ihn wäre, die Geschichte zu Ende zu erzählen, wo er sie nun einmal begonnen hat. Und so fragt sie sanft: «Was ist dann passiert?»
Max sieht sie mit gequältem Blick an. «Sie ist gestorben. Einfach so. Eines Morgens bin ich aufgewacht, und sie war tot. Sie lag auf dem Sofa unter einer Decke und war einfach tot. Ihr kleines Gesicht war ganz kalt …» Er wendet sich ab, spricht aber nach ein paar Sekunden mit festerer Stimme weiter: «Ich habe sie im Garten hinter der Schule beigesetzt. Es gab da ein kleines Gemüsebeet mit weicher Erde, da habe ich sie begraben. Eigentlich wollte ich Wolfie, ihren Stoffhund, auch mit beerdigen, aber als es dann so weit war, habe ich es doch nicht fertiggebracht. Er roch noch nach ihr, weißt du? Ich habe sie
Weitere Kostenlose Bücher