Knochenhaus (German Edition)
so gewaltig, dass er sich kaum von einem einzelnen Menschen überbrücken lässt.
Und seine Geschichte … absolut herzzerreißend. Das kleine Mädchen, das in dem leeren Schulhaus gestorben ist (an einer Hirnhautentzündung, vermutet Nelson), der trauernde Bruder, der die Leiche beerdigt. Das klingt alles so abwegig, dass es schon wieder wahr sein kann. Sie werden mehr wissen, sobald sie die Schule ausfindig gemacht und deren Gemüsegarten umgegraben haben. Die Presse wird sich sämtliche Finger nach der Story lecken.
Die tägliche Lagebesprechung beginnt um neun. Tanya hat ihr Notizbuch schon aufgeschlagen vor sich, Clough kommt kauend herein, Judy trinkt Tee.
«Alles in Ordnung bei Ruth?», fragt Nelson.
«Kein Mucks die ganze Nacht.»
«Geht’s ihr gut?»
Judy mustert ihn erstaunt. «Auf mich macht sie einen guten Eindruck, ja. Als ich gestern kam, hatte sie noch einen Freund zu Besuch.»
«Wen denn?»
«Diesen Archäologen, der gestern hier war.»
«Über den müssen wir sowieso reden», sagt Nelson. Dann erzählt er seinen Leuten vom unerwarteten Auftauchen Martin Blacks.
«Ach du dickes Ei», sagt Clough, der sich noch mit der Zunge Frühstücksreste aus den Zähnen pult. «Das war also tatsächlich er?»
«Pater Hennessey verbürgt sich dafür. Black sagt aus, dass er damals zusammen mit seiner Schwester ausgerissen ist, um nach Irland zu gelangen. Unterwegs wurde Elizabeth krank und starb in einer leeren Schule in der Nähe von Swindon.»
«Und das nehmen Sie ihm ab?», fragt Clough.
«Ich glaube nichts, was ich nicht überprüft habe. Auf jeden Fall sind wir aber sicher, dass die Leiche aus der Woolmarket Street nicht Elizabeth Black sein kann. Die DNA-Ergebnisse sind da …» Er macht eine Kunstpause. «… und sie belegen, dass Sir Roderick Spens und das tote Kind einen männlichen Verwandten teilen.»
«Dann könnte es also Annabelle Spens sein?» Judy ist fassungslos.
«Möglich wäre es. Tanya, wie kommen Sie mit den zahnärztlichen Unterlagen des Mädchens voran?»
«Das ist gar nicht so einfach.» Tanya klingt etwas defensiv. «Ich bin alle Zahnärzte durchgegangen, die in den Vierziger und fünfziger Jahren in Norwich praktiziert haben. Aber von denen ist keiner mehr aktiv, und die Patientenakten sind auch alle verschwunden.»
«Versuchen Sie’s weiter», sagt Nelson. «Immerhin sagt unsere Expertin, dass bei der Kleinen eine ziemlich aufwendige Zahnbehandlung durchgeführt wurde.»
«Aber wenn dieses Kind tatsächlich Annabelle Spens ist», sagt Judy zögernd, «wer hat sie dann getötet? Das war doch ein richtig brutaler Mord. Sie wurde erstochen und anschließend enthauptet.»
«Ich weiß es nicht», erwidert Nelson. «Ich weiß nur, dass es bei Morden an Kindern fast immer jemand aus der Familie ist.»
«Christopher Spens?»
«Warum nicht? Für meinen Geschmack klingt er ziemlich durchgeknallt. Diese ganze Latein-Kiste. Roderick Spens hat erzählt, sein Vater hätte einen Altar für die römischen Götter im Garten gehabt. Und dann der Brunnen. Den hat er selbst gebaut, nach einem Originalentwurf aus dem alten Rom.»
«Was ist mit der Mutter?», fragt Tanya. «Was war sie für ein Mensch?»
«Sir Roderick behauptet, sie wäre ‹ein wahrer Engel› gewesen, aber irgendwie hatte ich den Eindruck, dass er sie eigentlich gar nicht sonderlich gut kannte. Wahrscheinlich wurde er vom Kindermädchen großgezogen. Die Mutter ist relativ jung gestorben, 1957.»
«Nur ein paar Jahre nach ihrer Tochter», bemerkt Judy. «Wahrscheinlich hat es ihr das Herz gebrochen.»
«Wir sind hier nicht im Groschenroman», sagt Nelson. «Sie ist an einer Lungenentzündung gestorben. Das war damals gar nicht so selten.»
«Trotzdem», meint Clough, «schon ziemlich viel Pech für eine einzelne Familie, was?»
Ruth kann sich nicht recht auf die Arbeit konzentrieren. Durch Judys Anwesenheit hat sie sich verpflichtet gefühlt, früh aufzustehen, ihr Tee anzubieten und alles, was dazugehört. Doch Judy meinte nur, sie würde auf dem Revier frühstücken. Um acht brach sie auf und wirkte dabei so frisch und gut gelaunt, wie Ruth es selten vor zehn Uhr morgens fertigbringt. Und selbst dann eigentlich nicht.
Am Abend zuvor hatte sie es dann doch als erstaunlich angenehm empfunden, Gesellschaft zu haben. Max hat sich kurz nach Judys Ankunft verabschiedet, und Ruth muss zugeben, dass sie erleichtert darüber war. Sie braucht etwas Zeit, um Max’ Geschichte zu verarbeiten, sich mit dem Umstand
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