Knochenjagd (German Edition)
eine quadratische Plastikwanne, stopfte sie mit noch mehr Blisterfolie aus und schrieb die Fallnummer auf die Außenseite. Dann füllte ich ein Beweismitteltransfer-Formular aus und unterschrieb es. Da das mumifizierte Baby die Leichenhalle mit mir verlassen würde, musste die Kontrollkette aufrechterhalten werden.
Danach wandte ich mich den Handtüchern zu.
Wie die Fädchen, die ich von LaManches Toilettentisch-baby gezupft hatte, würden die Handtücher an die Spezialisten für Haare und Fasern geschickt werden, vielleicht auch in die biologische Abteilung oder zu einem DNS -Test. Das konnte nützlich sein, musste es aber nicht.
Ich steckte das Handtuch vom Dachboden in eine Plastiktüte, verschloss sie, schrieb die relevanten Informationen auf das Etikett und stellte die Tüte seitlich auf die Arbeitsfläche.
Als ich das Handtuch aus der Fensterbank in die Hand nahm, fiel etwas mit einem Geräusch wie ein winziger Bohnensack auf den Edelstahl. Neugierig hob ich das Ding auf.
Zwischen meinen behandschuhten Finger lag ein kleiner Samtbeutel mit einer Kordel zum Zuziehen. Ich zog den Beutel auf. Drinnen war etwas, das aussah wie grober Kies. Ich schüttete mir etwas davon auf die Hand. In der Mischung waren einige grüne Steinchen von höchstens ein paar Zentimetern Durchmesser.
»Wow. Was für ein Durchbruch!« Mein Sarkasmus verhallte ungehört in dem leeren Raum.
Nachdem ich ein paar Fotos geschossen hatte, steckte ich den Fund in ein Röhrchen und packte ihn zusammen mit dem gelben Handtuch in eine zweite Beweismitteltüte. Dann rief ich Lisa an.
Keine Antwort.
Ich schaute auf die Uhr. Zehn nach sechs. Natürlich war sie nicht mehr da. Kein Mensch war mehr da.
Ich spürte in mir eine Schwere vom Atomgewicht von Uran, als ich die Wanne mit dem Baby aus der Fensterbank in die Kühlkammer neben Autopsieraum drei trug und auf die Bahre neben das Baby aus dem Toilettentisch stellte, das jetzt verpackt und versiegelt in seinem eigenen Behälter lag. Dann schleppte ich mich zum Aufzug.
Der Keller war verlassen. Der zwölfte Stock ebenfalls. Im Gebäude summte die gespenstische Feierabendstille, die man nur an verlassenen Arbeitsstätten findet.
Am Schreibtisch in meinem Labor hinterließ ich Lisa die telefonische Nachricht, dass sie die Tüten mit den Handtüchern an die Abteilung für Spurenmaterial weiterleiten solle. Als ich den Hörer auflegte, wanderte mein Blick zu der Fensterfront über meinem Schreibtisch.
Ein Dutzend Stockwerke unter mir konnte ich die Dächer von Wohnblöcken, Kirchtürme und grüne Flecken sehen, von denen ich wusste, dass sie Gärten waren. In der Entfernung erhob sich das Maison de Radio-Canada wie ein gigantischer Backsteinzylinder am Boulevard René-Lévesque. Dahinter gähnte, sogar jetzt im Juni noch, grau und abschreckend der St. Lawrence.
Hinter den schwarzen Trägern der Pont Champlain schnitten die Wolkenkratzer von centre-ville scharfe Silhouetten in die frühsommerliche Abenddämmerung. Ich erkannte Place Ville-Marie, Complexe Desjardins, das Centre Mont-Royal, das Marriott Château Champlain.
Die Straßen, die ich heute Morgen auf der Suche nach einem Parkplatz abgefahren hatte, waren jetzt verstopft vom Verkehr. Eltern auf der Heimfahrt in die Vorstädte, um mit der Familie zu Abend zu essen und mit den Kindern Hausaufgaben zu machen, Liebende, die zu abendlichen Rendezvous eilten, Nachtschichtarbeiter, die sich zu Stechuhren schleppten, auf denen die Zeit einfach nicht vergehen wollte.
Wie oft waren Ryan und ich früher gemeinsam vom Wilfrid-Derome weggefahren, hatten über Opfer, Verdächtige und andere Aspekte eines Falls gesprochen. Mit Leuten, die mir nahestehen, aber mit der Arbeit nichts zu tun haben, kann ich über solche Dinge nicht sprechen – mit Pete, Katy, Harry, meiner besten Freundin Anne. Ich kann ihnen nicht sagen, was ich in einem Müllcontainer liegen oder in einem flachen Grab verbuddelt gesehen habe. Kann das geronnene Blut, die aufgeblähte Leiche, die wimmelnden Maden nicht beschreiben. Mir fehlte jemand, mit dem ich reden konnte, der mich verstand. Dank Ryan hatte ich mir mein inneres Gleichgewicht bewahren können. Mein Mitgefühl.
Ich fragte mich, warum Ryan im Augenblick so kühl war. Ja, wir hatten nie offen über unsere Gefühle gesprochen, hatten unser Innerstes immer für uns behalten. Auch in den guten Zeiten.
Natürlich, das Abschlachten von Unschuldigen entrüstete ihn. Frauen. Kinder. Senioren. Das wusste ich. Aber seine
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