Knochenjagd (German Edition)
abbog, bereute ich es bereits, ohne Jacke aus dem Haus gelaufen zu sein. Beim Ausatmen wehte mir Dampf von den Lippen.
Das Zentrum von Yellowknife sieht aus wie eine schnell herbeigeschaffte Filmkulisse. Denken Sie an die Serie Ausgerechnet Alaska, aber inflationieren Sie die Zahl der Bars, Restaurants, Läden und nichtssagenden Büro-und Verwaltungsgebäude.
Ich folgte Nellie zur Fiftieth Street und bewegte mich dabei schnell genug, um etwas Körperwärme zu erzeugen, aber auch so langsam, dass ich zwischen uns Abstand halten konnte. Was nicht schwer war. Trotz ihrer kurzen Beine und ihrer beträchtlichen Masse machte die Frau ordentlich Tempo.
Was Straßennamen angeht, ist Yellowknife ganz ähnlich wie Charlotte. Schon bald traf die Fiftieth Street auf die Fiftieth Avenue. Sehr kreativ.
Ohne auf Grün zu warten, lief Nellie über die Kreuzung. Um nicht entdeckt zu werden, blieb ich ein paar Augenblicke stehen, überquerte erst dann die Straße und stellte mich in eine Nische vor einem Andenkenladen.
Einen halben Block unterhalb der Fiftieth Street sah ich eine lange, orangene Markise an einem dreistöckigen Gebäude, das schon bessere Zeiten erlebt haben musste. Ein Schriftzug auf der Markise und dem Stuck des zweiten Stocks identifizierte den Bau als Gold Range Hotel. Ohne zu zögern, zog Nellie die Eingangstür auf und eilte hinein.
Ich zog mein iPhone aus der Jeans und tippte Ryans Nummer. Meine Hand zitterte vor Kälte so heftig, dass ich die Tasten verfehlte und es noch einmal versuchen musste.
Voicemail.
Ich hinterließ eine Nachricht. Ruf mich an. Sofort.
Während mein Blick zwischen dem Gold Range und dem Handy hin und her zuckte, versuchte ich es bei Ollie. Mit demselben Ergebnis. Ich hinterließ dieselbe Nachricht. Als SMS und Voicemail.
Schliefen die beiden Trottel noch? Hatten sie ihre Handys abgestellt? Waren sie bereits unterwegs? Unwahrscheinlich, nach weniger als sechs Stunden Schlaf.
Die Arme eng um den Körper geschlungen, musterte ich das Gold Range. Mit der grellen Markise, den geschnitzten Fensterläden und der falschen Tudorfassade sah es aus wie eine Mischung aus Schweizer Chalet und billigem Motel.
Wohnte Nellie im Gold Range? Oder Ruben? War sie vielleicht sogar jetzt da drin?
Ich überlegte, welche Möglichkeiten ich hatte. Reingehen und nach der einen oder der anderen suchen? Warten? Wie lange? Den ganzen Blödsinn lassen und ins Hotel zurückkehren?
Unter dem Kapuzenshirt und dem dünnen Baumwollhemdchen fror ich so sehr, dass mein ganzer Körper mit Gänsehaut bedeckt war. Ich bewegte die Arme auf und ab. Hüpfte von einem Fuß auf den anderen.
Wo zum Teufel waren Ryan und Ollie?
Ich warf einen schnellen Blick in den Laden hinter mir. Durch die Fensterscheibe sah ich Poster, Plastikeisbären und anderen Touristenkitsch. Und noch etwas: Sweatshirts und Jacken mit der Aufschrift I Love Yellowknife.
Die Geschäftszeiten standen auf einem Schild an der Tür: Montag bis Freitag, neun bis zwanzig Uhr. Fleißig. Brachte mir aber nichts. Außerdem war ich ohne Geld oder Kreditkarte zum Frühstück gegangen.
Ich schaute auf die Uhr. Zehn nach sieben.
Ich starrte das Gold Range an. Das Hotel starrte zurück, die Fenster stumm und dunkel im frühmorgendlichen Nebel.
Heftig zitternd versuchte ich es noch einmal bei Ryan und Ollie. Keiner meldete sich.
Entscheidung. Ich würde bis halb acht warten und dann das Hotel stürmen.
Wenn ich bis dahin nicht an Unterkühlung gestorben war.
Allmählich veränderte der eisige Nebel die Farbe. Hinter dem Explorer schimmerten Pink und Gelb durch lange, zinnfarbene Wolken, die parallel über dem Horizont hingen.
Sieben siebzehn.
Alles still am Gold Range. Dank der Beharrlichkeit der Sonne erkannte ich nun so etwas wie einen Häkelvorhang hinter einem Fenster. Nett.
Nach einer Stunde, wie es mir vorkam, schaute ich wieder auf die Uhr.
Sieben zwanzig.
Überwachungen waren offensichtlich nicht so herzrasend aufregend, wie sie oft dargestellt wurden.
Ich wollte eben meinen Plan ändern und zu Phase zwei übergehen, als die Tür aufging. Mit gesenktem Kopf trat Nellie auf den Bürgersteig und kam direkt auf mich zu.
Ich muss zugeben: Jetzt legte mein Herzmuskel doch einen Zahn zu.
Bevor sie die Ecke erreicht hatte, ging Nellie schräg über die Fiftieth Street und bog rechts in die Fiftieth Avenue ein.
Eine Dampfschwade der Erleichterung ausstoßend, eilte ich ihr nach.
In Yellowknife herrschte inzwischen rege Betriebsamkeit. Was
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