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Knochenkälte

Titel: Knochenkälte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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schon genau, wann welche aufgetaucht ist? Vermutlich hab ich mich bloß mal aus
Versehen mit dem Füller gestochen und selber tätowiert. Ich höre auf, den Punkt wegrubbeln zu wollen.
    Ersticktes Gezischel und Gegurgel entringen sich den Heizrohren. Geräusche, die man irrtümlich für Stimmen aus anderen Räumen halten könnte. Oder für Geflüster von draußen.
    Ich presse meine Hüfte gegen den Heizkörper und schaue aus dem Fenster. Aber außer meinem Spiegelbild auf der nachtschwarzen Glasscheibe kann ich nichts sehen.
     
    Der Morgen hat kaum gedämmert, da höre ich Dad schon aufbrechen, um die Angellöcher zu bohren.
    Mehr als ein paar Minuten am Stück hab ich heute Nacht nicht mehr geschlafen. Immer hab ich nur dagelegen und auf die nächtlichen Laute des Hauses gelauscht, ständig in paranoider Angst vor dem, was mich in meinen Träumen erwarten könnte.
    Draußen röhrt das Schneemobil auf. Dad lässt den Motor aufheulen und braust auf den See hinaus. Er wird ungefähr eine Stunde brauchen, um die Löcher ins Eis zu bohren.
    Ich stehe auf und beschließe zu duschen, bevor er zurückkommt. Ich lasse das Wasser laufen, bis der Heizkessel aufwacht und mir etwas Hitze gönnt, dann springe ich rein und versuche, den Albtraum wegzuschmelzen.
    Als Dad wiederkommt, hab ich den Kaffee schon fertig.
    »Eisig wie der Kuss einer Hexe ist es da draußen«, sagt er, schmeißt seine Handschuhe auf den Tisch und umklammert mit beiden Händen die dampfende Tasse, die ich ihm reiche. »Aber Löcherbohren wärmt einen auf. Das Eis ist über fünfundzwanzig Zentimeter dick.«

    Einmal war ich auch mit beim Eisfischen. Nicht gerade meine Vorstellung von einer aufregenden Freizeitbeschäftigung. Nach ein paar Tassen Kaffee bin ich aufgedreht genug, um mich dem Kuss der Hexe zu stellen.
    Als ich die Tür aufmache, sticht mir der Wind in die Augen und lässt mich die Nasenlöcher zukneifen. Ich lasse den Blick über die schneegepeitschte Landschaft aus Ufer und Eis schweifen. Was machen wir hier eigentlich?, frage ich mich zum millionsten Mal. Dads Antwort darauf lautet immer: »Man muss eben dahin gehen, wo es Arbeit gibt.«
    Ach, und in Toronto gibt’s keine Arbeit? Ich war innerhalb von zwei Jahren schon auf drei Schulen. Ich hab kaum Zeit rauszufinden, wo die Cafeteria ist, da packen wir schon wieder unsere Sachen. Was kommt wohl als Nächstes? Eine hübsche kleine Hütte am Nordpol?
    Wir sind auf der Flucht. Wir rennen vor einem Geist davon, vor einer Erinnerung. Aber man kann seinen Erinnerungen keine »Post bitte nicht nachsenden«-Karte vor den Latz knallen. Genauso wenig, wie man seinen Schatten loswerden kann - er weiß immer, wo man wohnt. Irgendwann müssen wir uns dem stellen, was mit Mom passiert ist. Irgendwann gibt es keinen Ort mehr, an dem wir uns verstecken können. Harvest Cove ist das Ende der Welt. Aber wenn ich Dad das sage, tut er es mit einem Achselzucken ab.
    »Gut festhalten«, ruft er mir über das Dröhnen des Schneemobilmotors hinweg zu. Ich klettere hinter ihn auf den Sitz und wir fahren los. Die Sonne neigt ihre Strahlen zum grellen Weiß des Eises hin. Der stechende Wind weckt mich endgültig auf.

    Die Hütten, die man im Jachthafen mieten kann, sind kleine hölzerne Verschläge auf Schlittenkufen. Dad und ich binden sie ein paar hundert Meter vom Ufer entfernt fest. Wir müssen eng zusammenarbeiten, um sie über das Eis zu bugsieren und direkt über den Löchern zu platzieren, die Dad gemacht hat. Dann verankert er sie mit Gewindeheringen im Eis.
    Als wir fertig sind, springen wir wieder aufs Schneemobil. Dad lässt den Motor aufheulen, und das Ding bebt unter uns wie ein Pferd, das rennbereit in der Startbox trippelt.
    »Sollen wir’s mal richtig aufdrehen?«, ruft Dad über die Schulter. »Mal schauen, was es so draufhat?«
    »Klar!« Ich blinzele gegen den heranpeitschenden Schnee an.
    »Dann mal schön festhalten!«
    Ich umklammere ihn mit beiden Armen. »Lass die Hölle los!«, zitiere ich unseren Lieblingsfilm, Gladiator .
    Dann fegen wir los.
    Wir fliegen über das Eis, und ich kralle mich an Dad, als ginge es ums nackte Überleben. Ich lache atemlos, die Wange gegen Dads Rücken gepresst. Wir brausen in das grelle Weiß der aufgehenden Sonne hinein, lassen den Wind und die Kälte hinter uns - und eine Zeit lang sogar die Vergangenheit.

acht
    Ich zucke mitfühlend zusammen, als der Kopf des Mittelge-wichtstypen auf die Matte prallt. Ich weiß, wie sich so was anfühlt. Er rappelt

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