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Knochenkälte

Titel: Knochenkälte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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so beschloss der Schamane, sich einen Windigo zu erschaffen«, sagt Nick. »Er holte ein Neugeborenes, dessen Mutter bei der Geburt gestorben war, und zog es als sein Kind auf. Als ein Kind der Nacht. Im dunklen Schein des Neumondes zog er in die Siedlung der Eindringlinge und nahm einen weißen Mann gefangen. Den schnitt er in Stücke und verfütterte ihn an das Kind. Er musste das Fleisch selber vorkauen, da das Baby noch keine Zähne hatte, und spuckte es dann dem Kind in den Mund.«
    »Der Kuchen ist fertig.« Laura macht den Backofen zu. »Wie groß soll dein Stück sein, Nick?«
    Er hält die Hände weit auseinander.
    »Danny?«
    »Nur eine dünne Scheibe, bitte«, sage ich. Die Geschichte hat mir ziemlich den Appetit verdorben.
    Laura teilt die Teller aus.
    »Und so wuchs das Baby und wurde rund und kräftig«, erzählt Nick um den Pfirsichkuchen herum weiter. »Immer bekam es nur das weißeste Fleisch zu essen. Als seine Zähne kamen, waren sie wie die eines Wolfes. An den Fingern wuchsen ihm Klauen wie bei einem Bären, und eine lange weiße Fellmähne ergoss sich über seinen Rücken. Das Kind wurde zum Windigo. Als es groß genug war, um selbst zu jagen, ließ der Schamane es auf den weißen Mann los. Und sein Hunger kannte keine Grenzen.«
    »Da kenne ich noch jemanden«, sagt Laura und küsst ihn auf den Scheitel.

    »Aber die Weißen kannten auch keine Grenzen. Wie die Ratten vermehrten sie sich, und wo immer sie hinkamen, verbreiteten sie Krankheiten und Tod. Der Windigo nährte sich von ihnen. Aber als die Eindringlinge von ihm erfuhren, bliesen sie zur Jagd auf ihn und stellten ihm eine Falle. Mit einem rotäugigen, bleichhäutigen Albino-Mann als Köder lockten sie den Windigo auf eine Lichtung mitten im Wald. Seit Tagen waren sie schon hinter ihm her und der Windigo war halb verhungert. Blind vor Hunger. Als der köstliche Duft des schneeweißen Fleisches ihm in die Nase stieg, konnte er nicht widerstehen.«
    Nick hält inne, um sich eine weitere Gabel Kuchen in den Mund zu schaufeln. Ich habe meine Portion noch kaum angerührt.
    »Der Windigo rannte zum Albino hin, der inmitten der Lichtung an einen Pfahl gefesselt war. Da eröffneten die Männer, die sich auf den Bäumen ringsum versteckt hatten, das Feuer. Sie beschossen den Windigo so oft, dass sein weißer Pelz rot vor Blut war. Mit letzter Kraft floh er von der Lichtung und entkam den Jägern. Doch nun wurde er vom Tod durch die Nacht gejagt. Zuvor war der Tod immer sein Jagdbegleiter gewesen, immer hatten sie sich die Opfer des Windigo geteilt. Aber nun war der Tod hinter ihm selbst her. Der Windigo kehrte zu seinem Vater, dem Schamanen, zurück.«
    Nick schleckt seine Gabel ab.
    »Und der Schamane, der das Ende vorhergesehen hatte - das Ende seines Stammes, der Manitu und des Landes selbst -, gab seinem Kind ein letztes Geschenk. Er holte aus seiner Medizintruhe die Haut eines weißen Mannes heraus, den er Jahre
zuvor erbeutet hatte, als die dunkle Vision vom Ende der Welt ihn zuerst befallen hatte. Er zog seine Kleider aus und hüllte sich in die Haut des weißen Mannes. Und dann opferte er sich seinem hungernden, sterbenden Kind. Ein letztes Mahl, bevor der Tod sie sich beide holte.«
    Laura beginnt, den Tisch abzuräumen. »Und die Moral von der Geschichte?«
    Als sie an Nick vorbeigeht, verpasst er ihr einen Klaps auf den Hintern.
    »Die Moral von der Geschichte lautet: Halte dich lieber an rotes Fleisch«, sagt er. »Das bekommt dir besser.«
    Laura lacht. Ash schüttelt lächelnd den Kopf.
    Nick steht auf und reckt sich.
    »Danny«, sagt er. »Nimm deine Stiefel und komm mit raus. Ich will dir was zeigen.«
    Ash und ich folgen ihm zur hinteren Tür.
    »Nein, nur Danny soll mitkommen«, wendet er sich an seine Tochter.
    »Dad«, sagt sie mit drohendem Unterton. Dann fügt sie etwas Indianisches hinzu, ein paar schnelle, zungenbrecherische Worte.
    Nick antwortet auf Ojibwa. Es klingt, als würde er sie besänftigen wollen. Überzeugt sieht sie nicht aus, aber Nick greift sich eine Taschenlampe, legt mir eine Hand auf die Schulter und führt mich über den Hinterhof zu einem Holzschuppen, der einen kleinen Schornstein hat.
    »Hab ihn im Oktober fertig gebaut. Da war der Boden noch nicht gefroren.«
    Ich beeile mich, mit ihm Schritt zu halten, und schiele dabei
immer wieder unsicher zu den dunklen Ecken des verschneiten Hofes hin. In denen sich weiß Gott was verstecken könnte.
    Während Nick mich durch die Dunkelheit führt, fällt mir

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