Knochenkälte
rüber. Das Glas ist von einer dünnen Eisschicht überzogen. Ich beuge mich vor, um meinen Atem draufzuhauchen, ein Stück freizuwischen, um hinauszusehen. Während das Eis unter meiner Atemluft schmilzt, vergesse ich, wo ich mich befinde.
Ich erinnere mich an eine Zeit vor einer halben Ewigkeit, an ein anderes Fenster, das ich frei gehaucht habe.
Es ist Frühling, Mom sitzt am Wohnzimmerfenster unserer Wohnung in Toronto und schaut auf die frischen Blätter der Bäume hinaus. Sie sind wie neugeboren, entfalten sich nur langsam aus ihren Knospen. Das Fenster ist geschlossen. Mom wechselt so schnell zwischen Schwitzen und Schüttelfrost hin und her, dass ich mit dem Decke rauf, Decke runter gar nicht nachkomme.
Sie lehnt sich zur Scheibe hin und haucht sie an. Aber ihr Atem verwandelt sich in ein schmerzhaftes Husten, das mich zusammenfahren lässt.
»Danny?«, sagt sie mit krächzender Stimme.
Ich gehe zu ihr. »Ist dir kalt? Ich hole dir deine Daunendecke. Frisch aus dem Trockner.«
Mom liebt es, wenn die Decken frisch aus dem Trockner kommen, so schön aufgeheizt sind. Wir waschen jeden Tag. Mom kann nichts im Magen behalten, immer wieder macht
sie die Laken, ihre Schlafanzüge und alles schmutzig. »Nein, mir ist nicht kalt«, flüstert sie. »Die Scheibe. Hauch sie mal an für mich, Danny Boy.«
»Ah.« Ich lächle, als mir klar wird, was sie vorhat.
Ich beuge mich über sie hinweg und dampfe einen Fleck Glas mit meinem Atem voll. Mom zeichnet mit dem Finger Linien auf die Scheibe. Sie ist ziemlich langsam, ich muss immer wieder nachhauchen. Als sie fertig ist, lehnt sie sich zurück, um ihr Meisterwerk zu bewundern.
Da stehen zwei Strichmännchen, Seite an Seite und Händchen haltend. Das eine ist Stinkboy, mein Alter Ego, mit seinen spitzen Zähnen und den geringelten Gestanklinien, die ihm entströmen. Die Figur neben ihm sieht ihm sehr ähnlich, hat nur lange Haare, aber mit den gleichen Gestanklinien.
»Wer ist das denn neben Stinkboy?«, frage ich. »Hat der Typ ein Date oder was?«
Die Zeichnung beginnt zu verblassen, also hauche ich ihr wieder Leben ein.
»Das ist mein anderes Ich.« Moms Lippen verziehen sich zu einem winzigen Lächeln. »Stinkgirl. Die beiden sind füreinander geschaffen.«
Sie macht fröstelnd die Augen zu.
»Kalt«, flüstert sie.
»Ich hol dir die Daunendecke. Bin gleich wieder da.«
Ich renne den Flur hinunter und zerre die Decke aus dem Trockner. Als ich wiederkomme, lehnt Mom mit dem Kopf am Fenster.
»Da.« Vorsichtig breite ich die Decke über ihrem Schoß aus. »Schön warm.«
Mit der Wange hat Mom einen Teil der Zeichnung abgewischt. Ich will sie schon aufrichten, da spüre ich plötzlich, dass etwas anders ist als vorher. Sie fühlt sich irgendwie... leer an.
»Mom?«
Ich nehme ihre Hand und presse meine Finger auf die Innenseite ihres kühlen, zerbrechlichen Handgelenks. Taste nach dem leisesten Pochen, dem schwächsten Hauch eines Pulses. Ich warte und warte.
»Mom?«
So schnell. Ich habe nur eine halbe Minute gebraucht, um die Daunendecke zu holen. Sie hat doch gerade noch mit mir gesprochen. Sie hat meinen Namen gesagt. Ich kann immer noch hören, wie sie ihn sagt.
Ich knie auf dem Boden. Will nichts tun, niemanden anrufen. Will nicht von ihrer Seite weichen. Ich lege meinen Kopf in ihren Schoß.
Fühlt sich warm an. Von der Daunendecke. Und von ihr selbst, daran muss ich ganz fest glauben.
Mein Atem hat ein Fenster in die weiße Eisschicht auf der Scheibe geschmolzen, sodass ich in die Nacht hinausschauen kann.
Ich taumele zurück und breche auf dem Bett zusammen, auf einmal zu schwach zum Stehen.
Es ist doch zu bescheuert. Die ganze Zeit rennen Dad und ich weg, versuchen, Dingen und Orten zu entkommen, die uns an sie erinnern könnten. Der größte Teil unserer Sachen steht immer noch in einem Lagerhaus in Toronto. Aber die
Gefahr lauert nicht in alten Sachen oder an vertrauten Orten. Sondern in unseren Köpfen. Und es gibt eine Milliarde Auslöser, die innerhalb eines Sekundenbruchteils alles wieder auferstehen lassen.
Hauch sie mal an für mich, Danny Boy.
Das ganze Wegrennen, wohin hat es uns gebracht? Hierher. Hier können wir uns verstecken. Hier sind wir in Sicherheit.
Na klar doch.
zwanzig
»Und, was hast du diesmal aufgetan?« Ich setze mich neben Ash auf das Fußende von Howies Bett.
Pike hat uns nach der Schule hergefahren. Howie wolle uns seine neuesten Entdeckungen zeigen, meinte er. Seit drei Tagen war er nicht
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