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Knochenkälte

Titel: Knochenkälte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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aufgefressen werde, dann lieber von Ash. Ich kann mir schlimmere Arten zu sterben vorstellen.

neunzehn
    Es ist spät. Sehr spät, mitten im toten Winkel der Nacht. Ich kämpfe gegen den Schlaf an, wandere in meinem Zimmer hin und her, habe Angst vor dem, was mich in meinen Träumen erwarten mag. Durch meine Adern jagt so viel Koffein, dass mein Herz wie ein eingesperrtes Tier gegen meine Rippen hämmert.
    Das Abendessen bei Ash war seltsam. Aber auf keine üble Art. Mit Ash und ihrer Mom und ihrem Dad zusammen zu sein, hat mir gezeigt, wie gut sie zusammenpassen. Die Art, wie sie sich umeinander bewegen, wie sie sich berühren, wie einer die Wortpausen des anderen füllt, die Gedanken des anderen zu Ende führt. Sie haben Spaß zusammen, klopfen Insider-Witze, sprechen in ihrem eigenen Sprachcode.
    Als ich so mit ihnen da am Tisch saß, traf es mich plötzlich wie ein Blitz - das hab ich auch mal gehabt. Dieses Mutter, Vater, Kind. Mom, Dad und ich. Wir hatten es auch.
    Wir haben in der Schule mal ein Gedicht gelesen, und da war ein Vers, der ging in etwa so: »Wenn Menschen sterben, sterben Welten mit ihnen.«
    Ich schüttele den Kopf, versuche, dieses Gefühl loszuwerden.

    Zurück von Ash, hab ich auf dem Küchentisch einen hellroten Briefumschlag gefunden. Offensichtlich eine Weihnachtskarte. Von Tante Karen, Moms jüngerer Schwester.
    »Ist heute Morgen gekommen«, sagte Dad und nippte an seinem Bier.
    Er fläzte sich auf der Couch und schaute sich irgendeinen Western mit Clint Eastwood an. Irgendwie sind die alle gleich - ein namenloser Mann reitet in die Stadt, legt die bösen Buben um und reitet wieder davon. Er ist nirgendwo zu Hause, besitzt nichts und ist immer unterwegs. Klingt wie tausendmal gehört und gesehen.
    Dad machte seinen Kronkorkentrick - er kann ihn wie eine Münze über die Fingerknöchel wandern lassen -, immer vor und zurück, und im Fernsehen lieferten sie sich eine Schießerei.
    Ich drehte den Umschlag in der Hand hin und her. Irgendwann hab ich ihn dann aufgemacht. Eine Weihnachtskarte. Ist doch harmlos. Aber plötzlich fiel etwas raus, flatterte direkt vor der Couch zu Boden. Dad und ich starrten darauf.
    Ein Foto. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Dad hörte auf, den Kronkorken wandern zu lassen. Einen Augenblick lang rührte sich keiner von uns. Dann hob Dad das Foto auf.
    Es war ein Schnappschuss von einem Tag am Strand, als wir noch in Toronto wohnten. Ich hab alles noch so klar in Erinnerung, als käme ich eben erst vom Strand zurück. Mom und ich hechten abwechselnd von Dads breiten Schultern in den kühlen Ontariosee. Dad steht bis zum Hals im Wasser und dient uns als Sprungplattform.
    Auf dem Bild ist Mom gerade dran. Die Kamera hat sie dabei
erwischt, wie sie mit einem überdrehten Lachen auf Dads Schultern balanciert. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Ich paddle in der Nähe herum, man kann meinen Hinterkopf sehen. Dad hält Moms Fersen fest, um sie im Gleichgewicht zu halten, und schaut zu ihr hoch. Sie glänzt nass im hellen Sonnenlicht und blinzelt sich die Wassertropfen aus den Augen. Dad hat den Mund offen, sagt...
    »Spring«, murmelte er mit Blick auf das Foto, im selben Zeitsprung gefangen wie ich. Ein geisterhaftes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln.
    Er hielt das Bild so fest, dass es ganz verbogen war.
    Da fiel mir plötzlich ein roter Punkt an seiner anderen Hand auf. Ein Blutstropfen sickerte aus seiner geschlossenen Faust.
    »Dad. Deine Hand.«
    Es dauerte eine Sekunde, bis er das Blut wahrnahm. Als er die Faust öffnete, sahen wir beide, dass der Kronkorken ihm in die Handfläche geschnitten hatte.
    Ich nahm die Schachtel Taschentücher und reichte ihm eins. Dann nahm ich ihm das Bild aus der anderen Hand und ließ es unbemerkt in meine Tasche gleiten.
    Während Dad sich das Blut abwischte, holte ich ihm ein Bier und mir eine Cola. Dann sahen wir uns gemeinsam den Rest des Films an, obwohl ich schon im Voraus wusste, wie er ausgehen würde. Geredet haben wir nicht viel. Haben nur dagesessen, die Nacht gemeinsam ausgesessen.
    Jetzt lege ich das Foto zu ein paar anderen, die in meiner Schublade begraben sind. Ich hole sie nur raus, wenn ich Angst kriege, ich könnte irgendwas über Mom vergessen. Irgendeine
Kleinigkeit, die aber entscheidend ist. Lange kann ich mir die Bilder nicht anschauen.
    Auf die Rückseite des Schnappschusses vom Strand hat Tante Karen geschrieben: Hier ein Stück Sommer, das euch über Weihnachten erwärmen soll.
    Ich gehe zum Fenster

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