Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
zu schlafen. Ich erinnerte mich an Geschichten über Kinder, die zusammengetrieben und getötet wurden. 1990 berichteten Zeugen, dass bewaffnete Männer acht Straßenkinder eingefangen hatten. Ein paar Tage später fand man ihre Leichen.
»Das hier ist anders.« Galianos Stimme holte mich in die Gegenwart zurück. »Diese vier jungen Frauen passen nicht ins übliche Muster.«
»Und was hat das Ganze mit mir zu tun?« Ich konnte es mir ziemlich gut vorstellen.
»Ich habe meinen Vorgesetzten Ihre Arbeit beschrieben und ihnen gesagt, dass Sie in Guatemala sind.«
»Darf ich fragen, woher Sie das wussten?«
»Sagen wir einfach, die SICA wird in Kenntnis gesetzt über Ausländer, die nach Guatemala kommen, um unsere Toten auszugraben.«
»Verstehe.«
Galiano deutete auf die Fotos. »Man hat mich geschickt, um Ihre Hilfe zu erbitten.«
»Ich habe andere Verpflichtungen.«
»Die Ausgrabungen in Chupan Ya sind abgeschlossen.«
»Die Analyse läuft eben erst an.«
»Señor Reyes ist bereit, Sie an uns auszuleihen.«
Zuerst der Reporter, dann das hier. Mateo hatte seit unserer Rückkehr in die Stadt einiges getan.
»Señor Reyes kann diese Knochen für Sie untersuchen.«
»Señor Reyes’ Ausbildung und Erfahrung sind mit Ihren Fertigkeiten nicht zu vergleichen.«
Das stimmte. Mateo und sein Team hatten zwar hunderte von Massakeropfern untersucht, sie hatten aber wenig Erfahrung mit frischen Mordfällen.
»Sie sind Mitautorin eines Artikels über Leichenentsorgung in Faultanks.«
Galiano hatte seine Hausaufgaben gemacht.
Vor drei Jahren wurde in Montreal ein kleiner Drogendealer verhaftet, weil er dem falschen Kunden seinen Stoff verkauft hatte. Da der Mann keine Lust auf eine lange Trennung von seinem Medizinschränkchen hatte, erzählte er eine Geschichte über einen Kollegen, der in dem Tank einer Kläranlage trieb. Die Provinzpolizei wandte sich an meinen Chef, Dr. Pierre LaManche, und LaManche wandte sich an mich. Daraufhin erfuhr ich mehr über die Entsorgung von menschlichem Abfall, als ich wissen wollte, und LaManche und ich brachten Tage damit zu, die Bergung zu überwachen. Wir hatten darüber einen Artikel im Journal of Forensic Sciences geschrieben.
»Das ist ein örtliches Problem«, sagte ich. »Es sollte von den örtlichen Experten bearbeitet werden.«
Der Ventilator summte. Galianos Tolle führte einen Tanz auf.
»Haben Sie je von einem Mann namens André Specter gehört?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Er ist der kanadische Botschafter in Guatemala.«
Nun kam mir der Name doch irgendwie bekannt vor.
»Specters Tochter gehört zu den Verschwundenen.«
»Warum wird das nicht über diplomatische Kanäle behandelt?«
»Specter hat absolute Diskretion verlangt.«
»Manchmal kann Publicity aber hilfreich sein.«
»Es gibt –«, Galiano suchte nach dem richtigen Wort, »– mildernde Umstände.«
Ich wartete, dass er näher darauf einging. Das tat er nicht. Draußen wurde eine Transportertür zugeschlagen.
»Falls es eine Verbindung nach Kanada gibt, könnte eine Zusammenarbeit zwischen den Behörden von Nutzen sein.«
»Und ich bin schon in Faultanks herumgekrochen.«
»Was nur wenige von sich behaupten können. Und Sie haben schon Fälle für das kanadische Außenministerium bearbeitet.«
»Ja.« Er hatte seine Hausaufgaben wirklich gemacht.
Und jetzt spielte Galiano seine Trumpfkarte.
»Meine Abteilung war so frei, Ihr Ministerium in Quebec zu kontaktieren und um die Erlaubnis zu bitten, Sie als Sonderberaterin zu engagieren.«
Ein zweites Objekt tauchte aus Galianos Tasche auf, diesmal ein Fax mit dem vertrauten fleur-de-lis- Logo. Er schob mir das Blatt über den Schreibtisch.
Monsieur Serge Martineau, Ministère de la Securité Publique, und Dr. Pierre LaManche, Chef de Service, Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Médecine Légale, hatten den Ermittlern einer Spezialeinheit der guatemaltekischen Zivilpolizei die Erlaubnis erteilt, mich vorübergehend als Beraterin zu engagieren. Meine Zustimmung vorausgesetzt.
Meine Chefs in Montreal waren Teil dieses Komplotts. Aus dieser Sache konnte ich mich nicht herauswinden.
Ich sah Galiano an.
»Sie stehen in dem Ruf, die Wahrheit herauszufinden, Dr. Brennan.« Die wunderschönen Augen waren erbarmungslos. »Eltern leiden Höllenqualen, weil sie die Wahrheit über ihre vermissten Kinder nicht kennen.«
Ich dachte an Kathy und wusste, welche Ängste ich durchmachen würde, sollte meine Tochter verschwinden, welches Entsetzen
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