Knochenpfade
bereits die Latexhandschuhe gezogen hatte, vor sich in die Höhe, um zu signalisieren, dass er bereit war. Bereit und aufgehalten durch seinen Gast, den man ihm aufgedrängt hatte.
Platt fand schnell, was er wissen wollte. Der Junge hieß Ronald – Ronnie – William Towers. Es war keine großartige Geste, aber er musste die Person, die er vor sich hatte, beim Namen nennen. Und wenn auch nur in seinem Kopf. Das war das Mindeste, was er tun konnte. Ronnie Towers verdiente diese kleine Respektbezeugung.
“Ich bin bereit”, sagte er zu Dr. Anslo.
Dieser Teil seiner Arbeit war für ihn als feinfühligen Menschen immer wieder eine Herausforderung. Das wurde auch nicht besser durch die Tatsache, dass er gerade aus Afghanistan kam und Zeuge der Blutbäder geworden war, die junge Männer wie Ronnie während ihres Einsatzes ständig erlebten. Diese psychische Belastung tat zu seiner Erschöpfung ein Übriges. Jedes Mal, wenn er nach Afghanistan oder in den Irak reiste, wurde Platt wieder daran erinnert, warum er als Armeearzt die Arbeit im Labor mit Phiolen, Reagenzgläsern und Objektträgern dem Operationssaal vorzog.
“Ich benötige eine Blutprobe von ihm.”
Anslo reagierte mit einem knappen Nicken, als fände er, Platt verschwende Zeit mit Selbstverständlichkeiten.
“Und eine Gewebeprobe.”
“Gut”, sagte Anslo. Er wechselte in einer Geste der Ungeduld von einem Standbein zum anderen und hielt weiterhin die Hände hoch, um zu zeigen, dass er noch immer auf Anweisungen wartete.
“Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit der Operationswunde zu beginnen?”, sagte Platt.
Der langsam ausgestoßene Seufzer des Mannes ließ keinen Zweifel daran, was genau Anslo von seiner Bitte hielt. Aber er weigerte sich auch nicht.
“Wenn Sie mir sagen, wonach Sie suchen, könnte ich Ihnen vielleicht dabei behilflich sein.”
“Ich weiß es nicht.”
“Sie wissen es nicht?”
“Nein”, gestand Platt ein, ohne sein Gegenüber anzublicken.
Seit er zurück in den Staaten war, hatte Platt so viele Akten wie möglich durchgesehen, um die entscheidende Gemeinsamkeit in der Krankengeschichte der Opfer zu finden. Bei allen Verletzungen hatte es sich anfangs um komplizierte Brüche mit starken Gewebeverletzungen gehandelt, bei denen der Knochen längere Zeit offengelegt gewesen war.
Dr. Anslo nahm Ronnies Prothese ab, legte sie beiseite und begann an der Operationsnarbe direkt unter dem Knie.
“Sieht alles ziemlich normal aus”, kommentierte er, ohne zu Platt hochzublicken. “Wenn Sie nach einer Infektion suchen, werden Sie die hier wohl nicht finden.”
Anfangs hatte Platt vermutet, dass es sich um ein durch die Luft übertragenes Bakterium handelte. Im Irak hatte er es mit einer Knochenentzündung mit dem Namen Osteomyelitis, kurz OM, zu tun gehabt, die vorwiegend im Mittleren Osten verbreitet war. Sie trat oft bei schweren Knochenbrüchen auf, bei denen die Knochen an der Luft gelegen hatten. Aber OM war nicht tödlich oder lebensbedrohend. Manchmal, aber sehr selten, hatte sie die Soldaten die betroffenen Gliedmaßen gekostet. Manchmal führte sie auch zu Methicillin-resistenten Staphylokokken, bekannt unter der Abkürzung MRSA, mit einer lebensbedrohlichen Resistenz gegenüber Antibiotika.
Captain Ganz hatte Platt berichtet, dass es nun ein Präparat gab, eine Art Knochenzement, der mit Antibiotika angereichert war. Auf diese Weise konnte man die Antibiotika direkt in die Fraktur leiten und so Infektionen verhindern. Außerdem hatte Captain Ganz die Patienten auf MRSA getestet. Die Ergebnisse waren negativ gewesen. Platt hätte wissen sollen, dass die Antwort nicht so leicht werden würde.
Aber wenn nicht MRSA, was dann? fragte er sich. Konnte es womöglich ein anderes, verwandtes Bakterium sein? Ein gegen Antibiotika resistentes, das versteckt im Zellgewebe ruhte und nur auf einen Auslöser wartete, um sich zu vermehren? Konnte eine Knocheninfektion wie OM zu einem tödlichen Krankheitserreger mutieren? Unter den richtigen Voraussetzungen, bei einer offenen Wunde, tiefen Gewebsverletzungen mit offen liegenden Knochen, war alles möglich. Platt hatte solche Fälle bereits vorher gehabt. Doch nichts glich dem hier. Unsichtbar und ohne anfängliche Symptome.
Dr. Anslo starrte ihn wieder an. Mit den hochgezogenen Augenbrauen drückte er seinen Unmut darüber aus, dass er erneut auf Anweisungen warten musste.
“Machen Sie bitte weiter”, sagte Platt. “Gehen Sie so vor wie immer.” Doch bevor Dr. Anslo mit dem
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