Knochenpfade
so wie Maggie es vorhergesehen hatte. Warum zum Teufel war er noch geblieben? Oder war er zurückgekommen? Um zuzusehen?
Maggies Boss, Assistant Director Raymond Kunze, hatte die tödlichen Schüsse abgegeben. Und anschließend hatte er seine Wut an Maggie ausgelassen. Als wäre es ihre Schuld gewesen, als hätte sie ihn dazu gezwungen, seine Waffe zu benutzen. Sie hatte unmöglich voraussehen können, dass sich der Mörder dort noch versteckt hielt. Das hätte kein Profiler gekonnt. Kunze konnte sie einfach nicht dafür verantwortlich machen. Trotzdem wusste sie, dass er genau das tun würde.
Harvey, ihr Labrador, schnappte sich einen ihrer weggeworfenen, völlig verschmutzten Schuhe. Doch statt damit zu spielen, ließ er sich plötzlich auf den Bauch sinken und begann zu heulen. Es war ein tiefer, kehliger Ton, der Maggie ans Herz ging.
“Komm schon, lass das fallen, Harvey”, befahl sie dem großen weißen Hund. Sie schimpfte nicht, sondern sagte es in leisem, freundlichem Tonfall.
Er roch das Blut an ihr, das beunruhigte ihn. Aber er gehorchte und ließ den Schuh aus seinem Maul fallen.
“So ist gut. Tut mir leid, mein Großer.”
Maggie hob den Schuh auf und warf ihn zu der durchnässten Bluse ins Waschbecken. Dann kniete sie sich vor Harvey auf den Boden und tätschelte ihn. Am liebsten hätte sie den Hund umarmt, aber sie war noch immer voller Blut.
“Warte draußen auf mich, Kumpel”, sagte sie und führte ihn aus dem weiträumigen Badezimmer in ihr Schlafzimmer. Dort wies sie ihn an, sich zu setzen. Hier konnte er sie durch die Tür noch sehen. Sie kraulte ihn hinter den Ohren, damit er sich entspannte. So lange, bis er sich seufzend hinlegte.
Der Geruch von Blut versetzte das Tier noch immer in Panik. Es schmerzte Maggie, wenn sie an den Grund dachte. In ihrem Gedächtnis lief von Neuem der Tag ab, an dem sie ihn gefunden hatte. Verletzt und verschreckt hatte er unter dem Bett seines ersten Besitzers gekauert, in einer Lache seines eigenen Blutes. Der Hund hatte unter Einsatz all seiner Kräfte, aber ergebnislos versucht, sein Frauchen zu verteidigen. Das hatte man aus dem Haus entführt und später ermordet.
“Es ist alles in Ordnung”, versicherte sie dem Tier. Dann wagte sie zum ersten Mal, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Wie um sich zu vergewissern, dass es auch stimmte.
Es hätte schlimmer sein können. Sie hatte bereits ganz andere Erfahrungen hinter sich. Und diesmal war es zumindest nicht ihr eigenes Blut.
Ihre verfilzten kastanienbraunen Haarsträhnen hingen fast bis auf die Schultern. Sie musste unbedingt zum Friseur. Dass sie ausgerechnet jetzt an so etwas dachte! Ihre Augen waren blutunterlaufen, aber das hatte nichts mit dem Vorfall in der Lagerhalle zu tun. Seit Monaten war sie schon nicht mehr in der Lage, nachts durchzuschlafen. Pünktlich zu jeder vollen Stunde wachte sie auf, als hätte sie einen Wecker in ihrem Kopf. Der Schlafmangel musste sich schließlich bemerkbar machen.
Sie hatte alle ihr empfohlenen Mittel ausprobiert. Eine ausgiebige Joggingrunde am Abend, um richtig erschöpft zu sein. Keine körperlich anstrengenden Tätigkeiten mehr nach sieben. Ein warmes Bad. Ein Glas Wein. Wenn Wein nicht wirkte, dann warme Milch. Sie hatte es mit Meditationsgesang versucht. Ihren Koffeingenuss reduziert. CDs mit Naturgeräuschen gehört. Neuartige therapeutische Kopfkissen benutzt und Kerzen mit beruhigenden Aromen angezündet. Sogar einen kleinen Scotch in die Milch gegossen.
Nichts wirkte.
Sie hatte keine Schlaftabletten genommen … noch nicht. Als FBI-Agent und Profilerin wurde sie manchmal mitten in der Nacht zu einem Tatort gerufen. Die meisten Medikamente – die guten jedenfalls – sorgten für acht Stunden ununterbrochenen Schlaf. Wer konnte sich das schon leisten? Ein Special Agent bestimmt nicht.
Sie nahm eine ausgiebige heiße Dusche und wusch sich vorsichtig. Schrubbte sich nicht ab, wie sie es zuerst hatte tun wollen. Sie vermied es, zum Ausguss zu blicken. Wollte gar nicht sehen, was dort von ihrem Körper hinuntertropfte. Das Haar ließ sie feucht. Sie zog sich ein Paar bequeme Sportshorts und ihr T-Shirt von der University of Virginia an. Ihre Kleidungsstücke – jedenfalls die, die nicht mehr zu retten waren – stopfte sie in einen Müllbeutel und warf sie in den Abfall. Schließlich ging sie ins Wohnzimmer, Harvey folgte ihr auf dem Fuß.
Sie schaltete den Fernseher ein, steckte sich die Fernbedienung in die Hosentasche und ging in die
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