Knochenzeichen
Sie schon kurz vor einer Festnahme?«
Russo war offenbar ein Klatschmaul. »Es geht voran. Wir verfolgen mehrere Spuren.«
»Typisches Cop-Gerede«, spöttelte er, doch in seinen Augen blitzte es. »Ich habe genug Fernsehkrimis gesehen, um das zu erkennen.«
»Mag sein. Aber das macht es nicht unwahr.«
Russo senkte die Stimme. »Ich habe gehört, ein junges Liebespärchen hat die Knochen gefunden, als die beiden hüllenlos in die Quelle gestiegen sind.«
»Da haben Sie was Falsches gehört.« Russo sah so enttäuscht aus, dass sie ihre Antwort fast bereute. »Wie üblich ist die Wahrheit nicht halb so aufregend wie die Gerüchte.«
»Tja, das war wohl zu erwarten.« Sein Tonfall klang bedauernd. »Man soll nie alles glauben, was man so hört, stimmt’s? In der Kleinstadt wird genauso viel geklatscht wie auf einem Universitätscampus. Fakten werden geändert, damit die Geschichte aufregender klingt.« Kritisch musterte er die zum Kauf angebotenen Kunstwerke. »Sehen Sie irgendwas, das Ihnen gefällt?«
Cait fasste einen spontanen Entschluss und zog das Blatt mit den Vergrößerungen der Bilder heraus, die sie auf den Knochen von Person männlich E gefunden hatten. Sie reichte es ihm und musterte dabei genau seine Miene. »Offen gestanden, suche ich etwas in dieser Richtung.«
Sein Gesichtsausdruck wechselte von Neugier zu wissenschaftlichem Interesse. »Zeugt unzweifelhaft von Talent. Die Linien haben individuellen Ausdruck, und die Technik ist solide. Die Originalität ist schwer zu beurteilen, da er oder sie alltägliche Gegenstände gewählt hat. Der Künstler hatte allerdings keine formelle Ausbildung.« Mit diesen Worten gab er ihr das Blatt zurück.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Aus mehreren Gründen.« Russo schob die Hände in die Taschen seiner Shorts und sah kurz zu seiner Verlobten hinüber, ehe er sich wieder Cait zuwandte. »Zum einen sind die in diesen Bildern benutzten Farben von unterdurchschnittlicher Qualität. Grell statt weich oder leuchtend. Es ist schwer, weiter in das Werk einzudringen, da es der Überspezifizierung des Bildinhalts an Individualität fehlt.« Ihre Miene musste ihre Verständnislosigkeit gespiegelt haben, da er seine Aussage erläuterte. »Selbst bei der Wiedergabe vertrauter Gegenstände sollte etwas vom Künstler in das Werk eingehen. Sei es im Licht, im Strich, in den räumlichen Beziehungen … wenn das Ziel nur ist, genau das abzuzeichnen, was man sieht, kann man genauso gut eine Kamera benutzen.«
Als ob er auf einmal begriffen hätte, dass er womöglich ihren Geschmack beleidigt hatte, stutzte er plötzlich. »Aber wenn Sie das Werk dieses Künstlers mögen, wenn er sie auf irgendeiner Ebene anspricht, dann lassen Sie sich bloß durch meine Meinung nicht davon abbringen. Das Wichtigste an einem Kunstwerk ist, welche Gefühle es in einem auslöst.«
Bitterer Zynismus stieg in ihr auf. Welche Gefühle diese speziellen Bilder in ihr auslösten, war kaum ein geeignetes Thema, um es mit Russo zu diskutieren. Doch falls er recht damit hatte, dass der Tatverdächtige keine formelle Ausbildung als Künstler genossen hatte, dann half ihr auch das dabei weiter, ihm näher zu kommen.
»Danke für Ihre Ausführungen.« Sie steckte das Blatt wieder in den Aktendeckel.
Russo wandte sich zum Gehen. »Anscheinend ist Candi hier fertig. Ich hoffe, Sie finden noch mehr Werke, die Sie interessieren.«
Cait murmelte eine Abschiedsfloskel und schlenderte auf die Frauen zu, die das Geschäft führten. Trotz der Wärme im Laden liefen ihr bei den letzten Worten des Kunstexperten kalte Schauer über den Rücken.
Denn sie hoffte auf das glatte Gegenteil. Sie hoffte, dass die Person, die diese speziellen Werke erschaffen hatte, damit am Ende war. Und dass sie den Täter fanden, ehe er etwas Neues »erschuf«.
Es dauerte fast zwanzig Minuten, ehe sie mit einer der Frauen sprechen konnte, die den Laden betrieben. Es war die ältere der beiden, die sich ihr mit einem breiten Lächeln zuwandte und mit einem diskreten Blick feststellte, dass Cait keine Artikel aus dem Laden in den Händen hielt. »Kann ich Ihnen helfen?«
Cait reichte ihr die beiden Fotos. »Ich wüsste gern, ob Sie diese Personen wiedererkennen. Beide waren in den letzten Jahren als Touristen hier in der Gegend.« Etwas verwirrt hielt sie inne, als sie das Namensschild der Frau sah. Moonbeam . Entweder hatten ihre Eltern sie schon gehasst, als sie zur Welt kam, oder sie hatte aus unerfindlichen Gründen selbst ihren
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