Knochenzeichen
leben.
Denn wenn er heute Abend mit seiner Arbeit fertig war, würde er in die Kammer gehen und der Schlampe den Hals brechen.
In einer Großtat höchster Ironie schaffte es Lydia Regatta doch noch, das letzte Wort zu behalten. Zumindest in Caits Unterbewusstsein. Bruchstücke der Vergangenheit liefen in kurzen Technicolor-Passagen in ihren Träumen ab, verschmolzen miteinander und gestalteten mit perfekter Treffsicherheit Erinnerungen, an die zu denken sie sich im Wachzustand nie die Zeit genommen hätte.
Da war wieder die Hitze der Scheinwerfer, deren grelles Leuchten ihre Haut mit einer Schicht Feuchtigkeit überzog. Die schrecklichen Muskelschmerzen, wenn sie stundenlang in derselben Position verharren musste, bis der Fotograf endlich das perfekte Bild eingefangen hatte. Und über jeder Aufnahme lag immer, immer die Stimme ihrer Mutter, die jede Entscheidung für sie fällte.
Ich will einen anderen Fotografen. Als sie das letzte Mal mit Paolo gearbeitet hat, hat er sie wie ein Trampel aussehen lassen. Er findet nie die richtige Einstellung.
Cait rutschte im Bett hin und her und vergrub den Kopf tiefer ins Kissen. Doch sie konnte den Film nicht abstellen, der in Endlosschleife in ihrem Kopf ablief. Vor sich sah sie eine wesentlich jüngere Version von sich selbst, die mit verkrampfter Kinnpartie in einem langwierigen Kampf mit ihrer Mutter abrechnete.
Später, Schätzchen. Dein Tutor sagt, du lieferst in all deinen Schulfächern hervorragende Leistungen ab. Hinterher ist noch genug Zeit zum Studieren. Weißt du eigentlich, wie viele Mädchen in deinem Alter für die Möglichkeiten töten würden, die dir offenstehen? Und es ist genau das, was sich dein Vater für dich gewünscht hätte.
Die Gestalten verschwammen an den Rändern. Flossen davon, um in eine neue Szene überzugehen. Anwälte, die sich über einen langen Tisch aus glänzendem Mahagoni hinweg musterten. Der Geruch nach alten Büchern und dickem Leder. Und die verkniffene Miene ihrer Mutter. Ihre abgehackten, missbilligenden Äußerungen.
Dein Vater wäre so enttäuscht von dir, Caitlin.
So enttäuscht.
So enttäuscht.
Lydias Stimme gellte wie eine Totenglocke durch ihren Kopf. Das Traumbild wechselte. Diesmal ein anderes Büro. Doch statt eines normalen Tischs jetzt ein Schreibtisch. Und eine achtjährige Cait, die bei ihrem Vater auf dem Schoß saß. Die den Duft von Kirschtabak und Pfefferminz einatmete, der nie so ganz den Geruch des ekligen braunen Zeugs aus der Flasche in seiner untersten Schublade überdecken konnte.
Du musst Daddys große Helferin sein, Caitie. Kannst du das?
Seine Stimme klang heiser und überdeckte das Schluchzen, das sie nicht unterdrücken konnte. Das Gefühl nahenden Unheils, welches ein kindlicher Verstand noch nicht vollständig zu ermessen vermochte.
Bring die Waffe an den besonderen Platz, den ich dir gezeigt habe. Dort wird sie niemals jemand finden. Und, Caitie …
Seine Hände umfassten ihre schmalen Schultern fest – zu fest.
… du darfst niemals jemandem die Wahrheit sagen. Niemals, Caitie. Es ist unser Geheimnis. Für alle Ewigkeit.
Es war ihr Geheimnis geblieben. Weil sie genau das getan hatte, was er ihr an diesem regnerischen Abend eingebläut hatte.
Und sie hatte es nie einer Menschenseele verraten.
Ihr Körper wand sich zuckend auf dem Bett, gefangen in dem heillosen Zustand zwischen Wachen und Schlafen, während sie vergeblich versuchte, die Decke des Schlummers abzuschütteln.
Erneut wechselte die Szene, diesmal zu einem wirren Durcheinander verschwommener Gesichter. Der Polizist mit den freundlichen braunen Augen, der sie mit netten Worten unter dem Schreibtisch hervorgelockt hatte. Die Dame mit dem altmodischen Kleid und dem verkniffenen Mund, die ihr immer wieder die gleichen Fragen gestellt hatte. Die Menschen, die durch die Aufbahrungshalle paradierten, allesamt mit betroffenen Mienen und neugierigen Blicken, während sie mit gedämpften Stimmen sprachen.
Ich habe gehört, es war ein aus dem Ruder gelaufener Einbruch. Wie schrecklich für Sie und die arme kleine Caitlin.
Was für eine Tragödie … du liebe Zeit, sie hätte ja auch erschossen werden können!
Solche Verbrechen sind ein Skandal! Man ist ja nicht einmal mehr in seinem eigenen Haus seines Lebens sicher!
Wenigstens hast du Gregorys Beamtenpension. Und die Versicherungspolicen …
Die Szene wechselte erneut. Sie waren im Büro jener Dame. Der mit den vielen Fragen. Ihr Mund wurde kleiner und kleiner, je wütender
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