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Knochenzeichen

Knochenzeichen

Titel: Knochenzeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kylie Brant
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während sie im Garten arbeiteten oder den Haushalt machten. Doch sobald sein Vater nach Hause kam, war die Musik stets verstummt.
    Der Abend, an dem sie seine Mutter begraben hatten, war diesem hier ganz ähnlich gewesen. Wolken verdeckten Mond und Sterne, als wäre ihr Glanz von Trauer verhüllt worden. Er hatte nicht trauern dürfen. Tränen waren nur ein neuer Vorwand für Prügel. Und mitten in der Nacht das Grab seiner Mutter schaufeln zu müssen hatte ihn zu sehr erschöpft, um überhaupt irgendetwas zu fühlen. Zumindest damals.
    Als seine Hand zu zittern begann, hielt er inne und holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Er brauchte absolute Ruhe für die Feinarbeit an den Zeichnungen. Je eher er fertig war, desto eher wurde er die Frau im Nebenraum los.
    Doch die heimtückischen Erinnerungssplitter ließen sich nicht bannen. Er war wieder neun Jahre alt und fröstelte in der Nacht, obwohl ihm der Schweiß über den Körper rann. Im matten Licht der Laterne sah er zu, wie der Alte die Leiche seiner Mutter in das flache Grab rollte.
    Schütt es zu. Und kein Wort über das hier zu irgendwem. Verstehst du? Was sollst du sagen?
    Der Schaufelstiel hatte ihn zweimal so hart am Rücken getroffen, dass er zwei Wochen lang einen Bluterguss hatte.
    Sie ist davongelaufen. Sie ist davongelaufen und hat uns sitzen lassen.
    Diese Worte auszusprechen war der ultimative Verrat an der Frau gewesen, die ihn bis dahin so gut wie möglich geschützt hatte.
    Denk nicht daran. Er holte tief Luft. Atmete langsam wieder aus. Er hatte all ihre besten Eigenschaften geerbt. Hatte sie das nicht immer gesagt? Er war sensibel und künstlerisch begabt und vielleicht zu mitfühlend, als ihm selbst guttat.
    Der Gedanke entspannte ihn, und so griff er erneut zum Stift. Begann rasch und sicher zu zeichnen, das letzte Bild für die Frau im Nebenraum. Es wäre nicht angemessen zu zeichnen, was er wollte, was seinen Eindruck von Barb Haines am besten illustriert hätte. Das wäre das Bild einer Dämonin gewesen, mit Hörnern und Reißzähnen und monströsen Gesichtszügen. Es mochte wahr sein, doch es wäre nicht respektvoll.
    Das Zeichnen beruhigte ihn wie immer. Doch es wäre gut, mit seinem letzten Gast fertig zu werden, damit er wieder zu den Skizzen zurückkehren konnte, die ihm am meisten Spaß machten. Er sah sich kurz um und betrachtete die Superhero-Comics, die er gezeichnet und an die Wand geklebt hatte. Ein Künstler brauchte seinen Raum, um etwas zu erschaffen. Und er hatte sich seiner Mutter nie näher gefühlt, als wenn er sich mit Zeichnen beschäftigte, was sie stets gefördert hatte.
    Erneut kam das Geräusch. Metall gegen Stein. Leise, aber unverkennbar. Mit verblüffender Heftigkeit wallte Wut in ihm auf.
    »Sei still, du verfluchte Schlampe! Sei still, sei still, sei still!« Der Stift zerbrach unter seinem Griff, und er schleuderte die Stücke quer durch den Raum, bis sie folgenlos von der Tür abprallten. Er versuchte, durch eine Brust zu atmen, die inzwischen wie zugeschnürt war. Sein Blickfeld war an den Rändern grau geworden. Er konnte die Stimme seiner Mutter nicht mehr in seinem Ohr flüstern hören. Doch er hörte seinen Alten lachen. Lauter und lauter, bis es widerhallte und in dem beengten Raum gellte und ihm in den Ohren wehtat und seinen Kopf erfüllte und es nichts anderes mehr gab als diesen schmerzhaften Lärm.
    Stöhnend schlug er sich die Hände über die Ohren und wiegte sich vor und zurück, während er darum rang, das Geräusch aus seinem Kopf zu verjagen.
    Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, ehe die Stimme verstummte und er die Hände wieder sinken ließ. Die Stille in seinem Kopf spiegelte sich im Nebenraum. Die Frau war verstummt.
    Wieder etwas ruhiger, erhob er sich und sammelte die Stücke des Stifts auf, den er davongeschleudert hatte. Er hatte es in seinem Umfeld gern ordentlich, und so warf er die Bruchstücke in den Müll und setzte sich erneut an seinen Arbeitstisch. Zückte einen anderen Stift und begann mit neuer Zielstrebigkeit zu zeichnen. Er würde die Skizzen noch heute Abend fertig machen, egal, wie lange es dauerte. Dann musste er das Skalpell schärfen. Das hatte er sich bereits letztes Mal vorgenommen, war jedoch noch nicht dazu gekommen.
    Pläne zu schmieden beruhigte ihn immer. Er summte zu dem Lied auf seinem iPod. Etwas über einen Autounfall und Regen und einen letzten Kuss.
    Barb Haines würde keinen letzten Kuss bekommen. Und sie würde nur noch wenige Stunden

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