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Knockemstiff (German Edition)

Knockemstiff (German Edition)

Titel: Knockemstiff (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donald Ray Pollock
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sich ihr schönstes Gesicht. Im letzten Jahr hatte sie für ihre Tante fünf Männer aufgegabelt, aber nicht einer von ihnen war auch nur zum Frühstück geblieben. Wenn Sharon nachbohrte, verstummte ihre Tante immer und weigerte sich, noch ein weiteres Wort dazu zu sagen. Es war hoffnungslos. Tante Joan war zwar erst Mitte vierzig, aber sie trug Alte-Frauen-Kleider, die an ihrem fetten Körper hingen wie müde Laken, und stülpte Gummigaloschen über ihre orthopädischen Schuhe, selbst bei trockenem Wetter. Ihr graues Haar war auf dem Kopf zu einem Dutt von der Größe eines Softballs aufgetürmt, und sie hatte ihr Lebtag noch keinen Lippenstift geschmeckt. Sharon war ebenfalls dick, aber im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, wie man Make-up richtig auflegt und die Leibesfülle unter hellen, bunten Trainingssachen versteckt. Es war nicht sonderlich schwer, einen Mann zu halten, wenn man auf sich achtete.
    Als Sharon mit den Augen fast fertig war, hörte sie Dean irgendwas von einer Riesenschildkröte brüllen und zur Hintertür hinausrennen. Sie war zu müde und mutlos, um ihn zu verfolgen, obwohl sie es nicht mochte, wenn ihn jemand bei einem seiner Anfälle sah, vor allem nicht Tante Joan. Als sie in die Einfahrt rollte, war er damit beschäftigt, mit einer Axt auf die hohe Fernsehantenne einzuschlagen, die an der Hausseite stand. »Meine Güte«, sagte sie, als Sharon in den Wagen stieg. »Was um alles in der Welt macht er denn jetzt?«
    »Keine Ahnung«, meinte Sharon. Sie stopfte ein paar leere Dosen und Fast-Food-Kartons unter den Sitz, um Platz für ihre Füße zu schaffen. »Dieser Regen hat ihn völlig durcheinandergebracht.«
    Sie fuhren in Richtung Stadt, und Sharon wartete schon darauf, dass ihre Tante mit der üblichen Ansprache begann – warum sie auch einen Mann habe heiraten müssen, der eine Stahlplatte im Kopf habe. Doch stattdessen erzählte sie Geschichten über ihre Schwester Bessie, Sharons Mutter. »Die Kinder in Knockemstiff nannten deine Mom und mich nur
die Höhlenmenschen
, als wir größer wurden.« Sharon hatte die meisten von Tante Joans Geschichten schon tausend Mal gehört, und sie hasste sie alle, vor allem diese. Jedes Mal musste sie dabei an haarige, krumme, affenähnliche Geschöpfe denken. »Aber deine Ma«, sagte Tante Joan und linste durch die geborstene Windschutzscheibe auf die dunkle nasse Straße, »hatte diese Schimpfwörter alle nicht verdient, im Vergleich zu mir. Sie war hübsch, genau wie du.«
    »Ja«, meinte Sharon nur, »und jetzt überleg mal, was aus ihr geworden ist.« Dann nahm sie sich eine Kool von ihrer Tante, in der Hoffnung, das Menthol würde ihren Hals beruhigen. »Auf lange Sicht hast du es vielleicht besser getroffen.«
    »Was? Die Hässliche zu sein? All die Jahre für Daddy zu schuften?« sagte Tante Joan. Sie rieb sich die Nase und wischte sich dann die Hand am Mantel ab. »Nein, ich finde nicht. Wenigstens hatte deine Mom ihren Spaß.«
    Fast jeder im County hatte von Big Bessie gehört. Sie war mit achtzehn von zu Hause weg und hatte dann ihr Leben lang in Meade hinter der Bartheke gestanden. Viele Männer verknallten sich in ihr Gesicht und versuchten, sich im Bett mit ihr einen anderen, schlankeren Körper vorzustellen. Eines Nachts war sie von der Arbeit nicht nach Hause gekommen, und Sharon hatte angenommen, dass sie mit einem ihrer Truckerfreunde losgezogen war. Das machte Bessie ab und zu, seit Sharon alt genug war, um für sich selbst zu sorgen; sie schmiss dann einfach den Job und verschwand für ein paar Wochen nach Florida oder Texas. Sie war gerade mal drei Tage verschwunden, da bekam Sharon einen Anruf von einem Kriminalbeamten in Milton, West Virginia. Die Leiche ihrer Mutter war in einem Müllcontainer hinter einem Pancake-Restaurant gefunden worden. Selbst jetzt noch, zehn Jahre später, rief Tante Joan regelmäßig bei der dortigen Polizei an und fragte nach, ob endlich jemand verhaftet worden sei.
    »Ich vermisse sie so sehr«, sagte Tante Joan.
    Sie näherten sich der Betonbrücke in Knockemstiff, die den kleinen Fluss namens Shady Glen überquerte, und Sharon mahnte: »Sei vorsichtig.«
    »Ach, das sagst du jedes Mal«, erwiderte Tante Joan lachend, trat aber auf die Bremse.
    »Ich weiß, aber was soll ich machen?« Beim Autofahren traute sie keinem mehr. Dean war vor vier Jahren kurz vor ihrer Hochzeit mit dem Wagen gegen die Brücke gekracht. Ein paar Leute, mit denen er auf die Berufsschule gegangen war, hatten einen

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