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KNOI (German Edition)

KNOI (German Edition)

Titel: KNOI (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schalko
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Jennifer meinte, mit zweiundneunzig wäre es an der Zeit, sich diesen Händen zu stellen, nur so könne man das Leid überwinden. Nicht für dieses Leben, aber für das nächste. Nein, nicht katholisch. Auch nicht evangelisch. Die Kerblers seien von jeher nur Rohrbacher und sonst nichts gewesen. Nein, sie sehe nicht, dass die Gläubigen immer mehr Glück im Leben hätten als die Ungläubigen. Es sei nicht Gottes Schuld gewesen, sondern Jakobs. Letztendlich spiele aber die Schuldfrage die geringste Rolle. Ob Jennifer die Hände betrachten dürfe? Sie könne sich genau vorstellen, wie demütigend das mit dem Großvater gewesen sei. Natürlich habe er sie trotz der Hände geliebt. Ob sie für ihr Opfersein nicht insgeheim dankbar sei. Ob diese Hände ihren Katholizismus nicht veredelten. Jeder Katholik wünsche sich doch ein sichtbares Leiden, eine eigene Passion, um dem Opfer Christi näher zu kommen.
    Die Eltern Schober fuhren für drei Wochen in Urlaub, die Großmutter lag zwei Wochen im Krankenhaus, und Jakob schlief eine Woche lang im Wohnzimmer. Er ignorierte ihr Weinen im Nebenzimmer. Phantomschmerzen, sagte er sich. Jennifer versuchte nicht, um Verzeihung zu bitten. Zu sehr hasste sie sich selbst, zu groß der Schrecken, dass es ihr nach all der Zeit wieder passiert war. Es war nie ganz verschwunden. Sie hatte damit zu leben gelernt. Von den anderen konnte man das nicht verlangen. Keiner konnte auf Dauer verzeihen. Sie habe einen Blick für das Schlechte, hatten sie in Rohrbach gesagt. Für das Gute sei sie blind. Für das Schöne taub. Und für das Verbindende stumm. Mit so einer wolle man nicht. Miteinander hieß, im richtigen Moment Trennendes nicht auszusprechen. Aber Jennifer konnte nicht anders. Sie musste, gegen ihren Willen, aber sie musste. Sie sagte, dass Jakob sie jetzt bestimmt verlassen würde, dass sie das verstehe, dass man mit so einer Person nicht zusammen sein könne und dass es für alle besser gewesen wäre, sie hätte diesen Unfall nicht überlebt. Jakob sagte darauf nichts. Er starrte in seine eigene Existenz wie in einen leeren Brunnen, in dem nur ein paar Skelette von Mäusen und Fröschen lagen.
    Anfangs hatte sie es noch genossen, ihn zu befriedigen, aber mit der Zeit ekelte sie sich vor seinem Orgasmus. Vor jedem männlichen Orgasmus. Sie empfand ihn als völlig lächerlich und konnte keinen Mann mehr ernst nehmen, der einmal vor ihren Augen gekommen war. Jeder Orgasmus ließ den Charakter eines Mannes auf das absolute Minimum schrumpfen. Das hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben, und Jakob hatte ihr nie erzählt, dass er es gelesen hatte. Sie schliefen kaum noch miteinander, auch nicht in den Tagen, als Jennifer nächtelang weinte. Schon gar nicht, um den Phantomschmerz zu lindern. Er warf ihr nichts vor, aber er tröstete sie auch nicht. Jennifer verschwand im Netz, und Jakob beschloss, nie wieder Hunger zu haben. Er nahm fünfzehn Kilo zu und sah bald so aus, wie er sich seit langem fühlte. Er telefonierte mit Konrad, der ihm wieder nicht von Buenos Aires, Mombasa oder Tokyo erzählte. Von einer Dienstreise gab es eben nichts zu berichten. Für einen Mann von Konrads Größe war es beinahe unmöglich, sich nicht zu erkennen zu geben, dachte Jakob und glaubte daher, in seinem Bruder einen guten Ratgeber zu finden. Aber Konrad eignete sich ausschließlich als Zuhörer. Längst hatte er alle Fäden durchschnitten. Sein Desinteresse wurde mit Geduld verwechselt. Sein Schweigen wurde so gut wie nie als Stumpfheit benannt.
    Für Konrad war Jennifer reine Erzählung. In seiner Vorstellung hatte sie kurz geschorenes Haar, eine sehr männliche Stimme und roch stechend nach Schweiß. In Jakobs Wirklichkeit hatte sie rot gewelltes Haar, ihre Stimme war hell und brüchig und vor ein paar Monaten hatte sie aufgehört zu riechen. Als wäre jemand mit einem Geruchsentferner über ihren Körper gegangen. Jakob hatte es bemerkt, als er die Bettwäsche wechselte. Er roch an ihrer Kleidung, an ihrem Nacken. Jennifer hatte ihre Witterung verloren, obwohl sie sich immer seltener wusch. Aber irgendwo musste sie den Eigengeruch gelassen haben. Mit dem Verlust des Eigengeruchs gingen auch andere Dinge. Als hätte man Teile von Jennifer entfernt. Als hätte jemand versucht, Jennifer in Etappen zu stehlen. Vor allem hatte sie aufgehört, sich und andere zu erkennen zu geben. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit woanders hingelenkt, sie war abwesend. Also begann Jakob ihr zu folgen. Er war der festen Überzeugung,

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