KNOI (German Edition)
das würde sie gerne erfahren, sagte sie und legte seine Hand auf ihren Bauchnabel. Verschwinden, sagte er, schließlich habe er nichts verbrochen. Konrad war verschwunden, bevor er überhaupt gegangen war. Es war ihm spät aufgefallen, aber irgendwann war er auf keinen Familienfotos mehr zu finden gewesen. Er wurde einfach nicht mehr fotografiert. Er wurde beim Einkaufen nicht mehr bedacht, seine Wäsche wurde nicht mehr mitgewaschen, seine ungelesene Zeitung verschwand ungefragt im Altpapier, Schuhe und Kleider wurden einfach entsorgt, und als er seine Geburtsurkunde plötzlich nicht mehr fand, da wusste er, es war Zeit zu gehen. Konrad hatte schon immer den Wunsch gehabt zu verschwinden, das lag an seiner Größe. Selbst wenn er neben einem stand, schaffte er es inzwischen, übersehen zu werden. Schon als Kind hatte sich Konrad so geräuschlos angeschlichen, dass sich Jakob sicher war, der große Bruder würde eines Tages beim Geheimdienst landen. Genaugenommen hatte Jakob keine Ahnung, was er da in der Ferne trieb. Rita und Melina hatten versucht, die Brüder verschwinden zu lassen, und zwar auf die exakt gleiche Weise. Konrad seufzte. Nach der Heirat mit Konrad hatte Melina eine Wandlung vollzogen. Sie hörte auf, sich zu waschen. Sie war schon immer Anti-Chemie, so wie sie Anti-Religion, Anti-Raucherin und Anti-Feministin war. Aber am stärksten war sie Anti-Chemie. Und was mit schlecht riechenden Waschmitteln und pH-neutraler Seife begann, führte in die totale Verweigerung. Am Ende war auch Konrad für sie pure Chemie. Und Rita, für die Hygiene die wichtigste Errungenschaft der Zivilisation war, wurde daher Anti-Melina. Jedes Treffen geriet zum Eiertanz. Letztendlich hatte Melina zwei Kinder, weil sie auf Chemie verzichtete, und Rita keine, zumindest damals nicht, weil sie dank Chemie keine haben musste. Warum er so lange bei Melina geblieben sei, gähnte der Kolibri. Ob er ehrlich sein solle, fragte Konrad. Sie nickte müde.
- Weil sie mir beim Ficken immer den Finger in den Arsch gesteckt hat.
Der Kolibri gähnte erneut. Sie finde solche vorgefertigten Witzigkeiten langweilig, und langweilig habe sie die Nacht bis jetzt eigentlich nicht gefunden. Eine Nacht, die man getrost vergessen durfte, aber keine, die man vergessen musste.
- Also, gute Nacht.
Sie drehte sich um und schloss die Augen. Konrad runzelte die Stirn. Er hatte sie eigentlich nicht eingeladen zu bleiben. Er wollte mit Jakob sprechen. Konrad rief nie irgendwo an, das war ein Naturgesetz. Sein Blick fiel auf das Display des Telefons. Keine Anrufe in Abwesenheit. Er hatte das Gefühl, er würde jetzt länger nichts von Jakob hören.
ELF
Natürlich war Jakob zurückgefahren. Sie sollten ihm nichts vorwerfen können. Er hielt beide Hände am Lenkrad und fixierte den Mittelstreifen. Keine Rehe. Keine Hasen. Keine Igel. Nur ein toter Vogel auf halbem Weg. Je öfter er an diesem Abend die Strecke fuhr, desto kürzer erschien sie ihm. Als er gegen drei Uhr ankam, konnte er sich an keinen einzigen Gedanken erinnern. Er hatte sie alle am Straßenrand liegen gelassen.
Inzwischen hatte jemand das Wohnzimmerlicht ausgeschaltet. Jakob hoffte, dass es Frau Kerbler war. Er hätte die Fahrtzeit nutzen können, um alle möglichen Szenarien durchzuspielen. Stattdessen stand er ratlos vor dem dunklen Haus und spürte, wie die Gedanken im Standgas rotierten. Er umrundete das Haus und versuchte in jedes der Fenster zu stieren. Wohnzimmer, Küche, Bad. Kein Mensch. Zumindest soweit man das vom Garten aus beurteilen konnte. Wahrscheinlich schlief sie. Wahrscheinlich war sie in den Wald zurückgegangen. Wahrscheinlich nicht. Er musste läuten. Und wenn sie sich nicht meldete, die Polizei rufen. Ihnen alles erzählen. Auch von Jennifer. Die gleiche Stille wie am Abend des Unfalls. Mit niemandem sprechen. Nicht heute Nacht. Morgen. Ohne Läuten zurückfahren. Jetzt würde es noch schneller gehen. Nicht Läuten. Hinter der Tür wartete ein Kriminalfall. Vielleicht waren es sogar zwei. Eigentlich war Jakob ein einziger Kriminalfall. Bloß nicht läuten. Ins Auto setzen. Noch einmal anrufen. Freizeichen. Anrufen. Läuten lassen. An der Tür lauschen. Der Täter hatte einen Fehler begangen, er hatte das Telefon zurückgelassen. Wieso Fehler? Konnte man ausgeschaltete Mobiltelefone orten? Frau Kerbler hatte ihre Mobilbox nicht aktiviert. Das erleichterte den Vorgang. Jakob ließ es läuten und lief von einem Fenster zum nächsten. Nichts. Zumindest hätte er gesehen,
Weitere Kostenlose Bücher