KNOI (German Edition)
Unvermeidlich. Sie brauche sich nur umzusehen. Pioniere! Sie zweifle doch nicht an seinen Fähigkeiten, eine Familie zu ernähren. Im Wald brauche man einen wie ihn. Er würde Max alles beibringen. Aus ihm würde ein richtiger Ernährer werden. Was sie denn glaube, wer das hier alles bezahle. Ob sie denke, es mache ihm Spaß, gesunde Zähne aufzubohren. Natürlich, um ihr ein besseres Leben zu bieten. Er sei stets einen Schritt voraus. An seine Zähne lasse er keinen ran. Da habe er vorgesorgt. Alles Porzellan. Strahlend weiße Zähne. Kariesfrei. Ein Leben lang. Da lasse er sich kein X für ein U vormachen.
Er schwang sich zurück auf den Boden, lief über den leeren Spielplatz und sprang über den Zaun. Blinkender Schriftzug. Katapult ins nächste Rechteck.
Er lief bis ins Dachgeschoß hinauf und kam außer Atem an. Rita öffnete die Tür, noch bevor er den Schlüssel umdrehen konnte.
- Alles in Ordnung?
- Und wie!
- Bist du gelaufen?
- Ist etwas falsch dran?
- Nein. Es ist nur ungewöhnlich.
- Ich laufe öfters.
- Ist mir noch nie aufgefallen.
- Es ist dir Einiges nicht aufgefallen.
- Wenn du einen Streit lostreten willst, ist das jetzt schlecht, ich habe es eilig.
Rita verschwand in der Garderobe. Sie stand in Strumpfhosen vor dem Schrank und zog ein Kleid nach dem anderen heraus. Lutz starrte auf ihre Narbe unterhalb der Brust. Irgendwann begann er nur noch die Risse zu sehen. In allem. Er konnte nicht anders.
- Was ist los?
- Ich muss mit dir reden.
- Klingt dramatisch.
- Ist es auch. In fünf Minuten wirst du mich verlassen.
- Hast du jemanden ermordet?
- Wieso fragst du?
- Weil das vermutlich der einzige Grund wäre, warum ich dich verlassen würde.
Sie entschied sich ausgerechnet für das blaue Kleid, das ihr Jakob in Paris geschenkt hatte. Völlig über seinen Verhältnissen, dachte Lutz, der es verabscheute, wenn Menschen auf irgendetwas sparten. Man sollte sein Geld für das ausgeben, was man sich ohne Aufwand leisten konnte. Und das war bei dieser Reiseführerschreibkraft überschaubar. Madrid in acht Stunden, London in acht Stunden, Amsterdam in acht Stunden. Da brauchte man tatsächlich nicht verreisen. Nur nach Paris musste man. Um dieses Kleid zu kaufen.
- Du würdest mich wegen eines Mordes verlassen?
- Ja. Kannst du mir hinten den Reißverschluss hochziehen? Danke.
- Und wenn es Totschlag wäre?
- Da besteht kein Unterschied für mich.
- Oder ein Unfall mit Todesfolge?
- Was wird das, Lutz? Willst du mir einen Mord gestehen?
- Nein, natürlich nicht.
Rita steckte sich die Haare hoch und sah auf die Uhr.
- Du hast noch drei Minuten, bis ich dich verlasse. Sie sagte das nicht im Scherz. Sie klang gereizt, und Lutz sah nichts blinken, das ihn ins nächste Rechteck katapultieren würde.
- Hast du etwas mit dem Verschwinden von Jennifer zu tun?
- Wie kommst du darauf?
- Diesen Mord würde ich dir vielleicht verzeihen, sagte sie scherzhaft, während sie ihre Lippen knallrot schminkte. Sie sah aggressiv aus, als ginge sie auf die Jagd.
- Gut, ich habe sie ermordet. Es war ein Sexunfall. Ich habe sie im Wald verscharrt. Es gibt keine Leiche. Also kein Mord. Alles ist gut.
Rita sah ihn an und spitzte ihre roten Lippen zu einem Luftkuss.
- Na dann, bleibt ja alles beim Alten. Zwei Minuten.
Sie zwinkerte ihm zu und marschierte in Richtung Vorzimmer. Sie schüttelte den Kopf und schlüpfte in ihre Burberry-Jacke.
- Ich habe ein Verhältnis mit Doktor Haselbrunner.
Rita jauchzte auf. Es klang wie ein körperzerreißender Schluckauf.
- Sehr gut! Das wäre wirklich etwas.
- Ich meine es ernst. Ich liebe Doktor Haselbrunner.
- Ich muss jetzt wirklich gehen, Lutz. Gibt es noch etwas Wichtiges, sonst würde ich vorschlagen, wir besprechen die Doktorin am Nachmittag. Wir sind heute allein. Hilde ist mit Max bis in den Abend hinein unterwegs. Vielleicht kannst du mir ja dann erzählen, was die Doktorin so mit dir macht. Ich bin eine gute Doktor Haselbrunner, glaub mir.
Sie strich über sein Gesicht und tätschelte ihn wie ein Kind, dem eine Stunde Fernsehen versprochen wurde. Dann schlug sie die Tür hinter sich zu. Lutz sah noch immer nichts blinken. Er ließ sich auf den Fauteuil fallen und blieb dort regungslos sitzen. Er hielt sein Gesicht in das flutende Mittagslicht. Eine völlig gedankenlose Existenz führen. Kapitulieren vor dem Faktischen. Den Platz annehmen, der einem zugewiesen ist. Sich in den Wind legen. Das Wasser aufnehmen. Wachsen. Sich nach der Sonne strecken.
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