KNOI (German Edition)
Verwesungsprozess gegönnt, sondern darauf geachtet habe, dass möglichst schnell möglichst nichts von ihm übrigbleibe. Aber diese Rechnung sei nicht aufgegangen. Vielmehr habe sie das Gefühl, er würde sich zunehmend im ganzen Haus ausbreiten. Als ob sein Geruch den ihren zunehmend verdrängen würde. Warum sie seine Kleider nie entsorgt habe, hatte der Sohn gefragt. Wenn sie seine Gegenwart so verabscheue, dann müsse sie alles, was nach ihm rieche, aus dem Haus schaffen, sonst würde die Sache umgekehrt ausgehen. Was er mit
umgekehrt
meine. Na, dass er sie aus dem Haus schaffe, hatte der Sohn gesagt. Sie könne doch nicht seine Garderobe entsorgen, wie er sich das vorstelle. Jemand anderer würde sie tragen, Hermann würde weltweit verstreut weiterleben, und Liane wäre dann nirgends mehr sicher vor ihm. Er hätte sie damit nicht alleine lassen sollen, hatte der Sohn gedacht. Als er den Bluterguss unter ihrem Auge gesehen hatte, da hätte er etwas unternehmen sollen. Stattdessen hatte er sie mit diesem ausgefressenen Tyrannen alleine gelassen. Hatte die Flucht ergriffen, weil er insgeheim erleichtert war, dass er seine Mutter endlich jemandem übergeben konnte. Wenn er gewusst hätte, was er nur geahnt hatte, wäre er natürlich geblieben. Aber ihr größtes Talent war von jeher gewesen, die Dinge vor aller Augen verschwinden zu lassen. Nur Hermann ließ sich nicht wegwaschen. Und je mehr sie ihn zersetzte, desto gegenwärtiger erschien er ihr. Als ob die Verwesung nach homöopathischen Prinzipien funktionierte, schien ein Hermann niedriger Potenz eine höhere Hermannwirkung zu haben.
Liane betrieb den Zersetzungsprozess mit aller Emsigkeit. Inzwischen schleuderte sie die Wäsche einmal täglich durch das Kochprogramm. Im Kasten hing ein Hermann in Kindergröße. Und jeden Abend streute sie seine Asche über den Tisch, um sie mit dem Handstaubsauger wieder aufzusaugen. In der Urne konnte sich nur noch ein Bruchteil von Hermann befinden, so durchsetzt musste er inzwischen mit dem Staub der restlichen Wohnung sein. Aber davon hatte sie ihrem Sohn nichts erzählt. Er verstand nicht, wie man Dinge zum Verschwinden brachte, ohne dass es die Dinge selbst bemerkten. Dinge haben kein Bewusstsein, hätte er gesagt. Aber es hatte schließlich einen Grund, warum sich Atome zu einem Gegenstand formierten. Letztendlich kämpften diese armen Partikel nur gegen ihr eigenes Vorhandensein. Gegen ihre Einsamkeit. Aber es gab keine Vergänglichkeit. Nichts durfte diese Welt je verlassen.
Als es an der Tür läutete, saß Liane vor der Waschmaschine. Sie hatte begonnen, die dunkle Wäsche mit der weißen zu verkochen. Hatte ihr Sohn schon wieder etwas vergessen? Sie öffnete, und vor ihr stand diese Gestalt. Unsichtbare Augen, die sie durch das schwarze Gitter fixierten. Kein Entrinnen. Keine Sense. Sie würde nicht um ihr Leben betteln. Niemals. Sie hatte sich immer gewünscht, dass der Tod ihr Bewusstsein langsam zersetzte. Aber das hier sah nach einem plötzlichen Tod aus. Schlaganfall. Herzinfarkt. Hirnblutung. Sie lauschte in ihren Körper. Keine Anzeichen. Gleich der Schlag. Das Zucken. Der Blitz. Das Weiß vor Augen. Das Nichts. Solange sie den Blick nicht abwandte, würde sie leben. Warum sagte sie nichts, die Gestalt? Grüß Gott, Frau Schöttl. Heute ist leider nichts dabei. Nicht einmal Werbung. Verdammt viel Post in Hundsdorf. Alles in Ordnung, Frau Schöttl? Hatte man den Briefträger geschickt, um nach dem Rechten zu sehen? Ist sicher nichts dabei für mich? Verzieh dich. Tut mir leid, Frau Schöttl.
- Ist sicher alles in Ordnung?
- Die Post ist nicht die Polizei, fauchte die Gestalt.
- Alles in Ordnung, rief Liane, worauf der Postbote zögerlich weiterging. Diese Stimme. So klang kein Tod. Nicht einmal in Hundsdorf.
- Wer sind Sie?
- Ich komme wegen Hermann.
Liane stand regungslos da. Nicht aus Angst. Aus Ratlosigkeit.
- Bitten Sie mich herein, sagte die Gestalt.
Liane nickte, rührte sich aber nicht.
- Ich trage das hier aus einem guten Grund, sagte die Gestalt.
Liane nickte. Sagte aber nichts.
- Wenn ich es Ihnen erkläre, lassen Sie mich dann herein?
Liane nickte und unterstrich ihr Nicken mit einem bejahenden Geräusch.
- Ich trage diese Burka wegen dem Licht.
Liane nickte.
- Ich vertrage es nicht. Das Licht.
Liane nickte.
- Sie sind seine Ex-Frau, sagte sie.
- Ich habe die Scheidungspapiere nie unterschrieben.
- Das ändert nichts.
- Er hat meine Niere getragen.
- Ein Organ ist kein
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