Knuddelmuddel
habe nichts von Bornhöfer bestellt oder gewollt, aber nett ist es ja trotzdem von Jana und den Kollegen.
Im Bett sehe ich mir die Bücher an. Das erste ist von Daniel Bornhöfer, Jugendstrafvollzug in Frankreich und Deutschland: Auf dem Weg von „lieu de non-droit“ zum modernen Behandlungsvollzug mitten in Europa. Ich weiß nicht mal, was lieu de non-droit heißen soll, und ein französisches Lexikon habe ich auch nicht. Und der Laptop mit seinem Google-Übersetzer ist drüben, und dafür werde ich die Jana jetzt natürlich nicht wecken. Die sah ja schon so aus, als ob sie eine Mütze voll Schlaf – oder einen Hut oder eine von mir demnächst selbergemachte Häkelkappe aus blauer und lila Wolle – dringend nötig hätte.
Das zweite Buch ist ein Bildband von Thomas Bornhöfer. Dreihundertfünfundsechzig Tage in Worten und Bildern, eine Reise um die Welt .
Ich werd verrückt – das ist mein Tom. Das ist ein Buch von meinem Tom und seiner Weltreise damals. Die am Hamburger Flughafen startete. Wo ich ihn nach unserer Nacht abegeliefert hatte. Wo wir beide hilflos standen und nicht wussten, was wir sagen sollten. Kann das sein? Ich gucke vorne nach, ja, das Buch ist fast dreißig Jahre alt. Und es hat eine Widmung: für Elke. Thomas Bornhöfer, Dreihundertfünfundsechzig Tage in Worten und Bildern, eine Reise um die Welt. Und darunter: für Elke. Bedeutet das, dass die Nacht damals vor der Reise nicht spurlos an Tom vorbei gegangen ist? Was für eine Frage, Elke, was für eine Frage. Ganz offensichtlich ist sie nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Er hat dir sogar sein Buch gewidmet. Aber warum hat er mir dann nie eins geschickt? Und warum hat er nie was gesagt? Und wenn er es mir damals geschickt hätte – dann, was was dann? Hätte das irgendwas in meinem Leben geändert?
Ich weiß es nicht.
Und was ist schief gelaufen, jetzt, als er hier bei mir in Lissabon war? Die fehlende Magie? Der fehlende gute Wille? Meine doofe Unentschlossenheit? Die Hochzeitsfeier in Sintra war ja wohl nur der Nagel auf dem Sarg, der Sarg muss da schon bereit gestanden haben. Sonst passiert sowas doch nicht.
Mitten in der Nacht wache ich auf, das Licht brennt und ich halte immer noch Toms Buch in der Hand. Auf dem Foto Tom, der in Neuseeland Äpfel pflückt. Ach Tom ...
Ich lege das Buch auf den Nachttisch, mache das Licht aus und versuche wieder einzuschlafen. Und zack ist Claudio wieder in meinem Kopf, wo er doch nicht mehr sein soll und nicht mehr hingehört. Weder in meinen Kopf, noch in mein Herz, noch in meine Seele. Aber wie kann es denn bloß angehen, dass man zusammen so einen schönen Abend erlebt, dass es so ein Verständnis gibt, so ein – ach, was weiß ich. Dass da so ein Versprechen von Gemeinsamkeit in der Luft liegt wie der Geruch von Flieder im Frühling. Da spricht mal wieder die Romantikerin in mir, die – wenn man es allerdings mal richtig analysiert – eher eine schwarze als eine weiße Romantikerin ist. Eine Romantikerin, die am liebsten den Walzer der Amélie spielt, in einer Dauerschleife, bis der Schmalz so greifbar wird, dass man ihn in Tiegeln auf dem Goldbekmarkt verkaufen könnte. Gleich neben dem Fischstand, wo meine Mutter die Schillerlocken gekauft hat, die übrigens ganz fantastisch schmecken.
Da ist übrigens noch was, sagt Jana am nächsten Tag bei einem späten Frühstück und gibt mir einen Stapel Briefe. Ich sehe auf die Absender, ich kenne nicht einen einzigen dieser Absender, ich sehe auf die Anschrift. Die Briefe sind nicht an mich, sie sind an eine Chiffre-Nummer. Oder besser: an mehrere Chiffre-Nummern.
„Was ist das?“, frage ich.
„Das ist von Bine, Andrea, deiner Mutter und dem Buchladen“, sagt Jana. „Ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk. Oder ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk. Wir haben eine Anzeige für dich aufgegeben“.
„Was für eine Anzeige?“, sage ich. „Was denn für eine Anzeige?“
„Sowas wie eine Heiratsanzeige. Eine Bekanntschaftsanzeige. Eine Kontaktanzeige eben“, sagt Jana. „Oder besser mehrere. Jeder von uns hat eine Kontaktanzeige verfasst und in einer anderen Zeitschrift aufgegeben. Und das hier sind die Antworten“.
In meiner Hand halte ich siebenundsiebzig Zuschriften. Das wird wohl eine Weile dauern, bis ich die sortiert und gelesen habe. Wie mich die anderen wohl beschrieben haben? Da bin ich ja gespannt drauf. Fast mehr als auf die Antworten. Denn ich will ja niemanden mehr kennenlernen. Das ist vorbei. Ich will mein Herz
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