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Koala: Roman (German Edition)

Koala: Roman (German Edition)

Titel: Koala: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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Abgrund, am Ende vernichtete sie alle. Kein Werk so groß, die Königreiche ein Haufen Dreck, alles zerfiel im sauren Atem der menschlichen Angst. Und wer die Angst fühlte, war glücklich, denn dies bewies, dass er noch nicht tot war. Der Mensch konnte wählen, ja, er war ein freies Wesen. Er konnte wählen zwischen der Angst und dem Tod.

Die Medizin gegen die Angst war der Fleiß. Der Strebsame brauchte ein gutes Paar Beine, und wer strebsam sein wollte und nicht darüber verfügte, der hatte sich zu beweisen und zu erklären. Tüchtig war nur der Starke, jeder wusste es und folgte aufmerksam seinen Übungen. Man hatte sich in Schuss zu halten. Die Arbeit war keine Strafe mehr, sie war zur einzigen Tätigkeit geworden. Die Faulheit wurde ausgelöscht und vergessen, ihre Geschichten, ihre Segnungen, ihre Blüten, ihre Verse und Lieder. Ihre Orte, die Betten und die Tische der Faulheit, waren noch da, verwandelt in Werkstätten, Fabrikationsstraßen, Verwaltungen. Der Mensch hatte die Welt zu einem Arbeitsplatz gemacht. Die Arbeit eroberte den Raum, die Faulheit legte sich in die Zeit und nahm sie sich als Liebhaberin. Faulheit mochte schmerzen, aber sie kannte die Angst nicht. Die Erscheinungen machte sie gleich und gültig. Das Nahe und das Ferne vereinten sich, der Faule sah keinen Grund, das Gegenwärtige mit dem Zukünftigen zu vergleichen. Das Eine zu wollen und das Andere abzulehnen, das Eine dem Anderen vorzuziehen kam ihm nicht in den Sinn. Die Faulheit mochte bewerten, aber sie kämpfte nicht, und was nicht kämpfte, durfte nicht leben.
    Auch ich war der Arbeit verfallen, stand bei Tagesanbruch auf, erledigte mein Soll, legte mich nur schlafen, damit ich wieder frisch war für das nächste Tagwerk. Was ich damit schuf, war Abfall, ein großer Haufen Vergeblichkeit, eine Beschäftigung um der Beschäftigung willen. Es ist unnütz, rief mir etwas zu, was du tust, ist Ablenkung, es wird nicht helfen, nicht dir, nicht deinen Kindern, nicht der Welt. Und ich lernte, woher das Wort Arbeit kam, dass es einst eine Waise bezeichnet hatte, ein Kind ohne Eltern, das sein Brot selber verdienen musste, in Knechtschaft, in Sklaverei. Und so lebten wir, so lebte ich. Außerhalb der Schöpfung. Uns wurde nichts geschenkt, was wir essen wollten, mussten wir dem Tage stehlen. Wir waren Knechte, Sklaven, jeder von uns, und unser Geist war so verdorben, dass wir nicht einmal merkten, wie krank und elend uns die Arbeit machte. Jedes Hindernis konnte nur durch noch größere Anstrengung überwunden werden.
    Und ich begriff auf einmal, weshalb man es scheute, über den Selbstmord zu reden. Er war nicht wie eine Krankheit ansteckend, er war überzeugend wie ein schlüssiges Argument. Es war eine Lüge zu behaupten, dass man die Selbstmörder nicht verstand, im Gegenteil. Jeder verstand sie nur zu gut. Denn die Frage lautete nicht, warum hat er sich umgebracht? Die Frage lautete: Warum seid ihr noch am Leben? Warum verkürzt ihr nicht die Mühsal? Warum nehmt ihr jetzt nicht gleich den Strick, das Gift oder den Revolver, warum öffnet ihr nicht das Fenster, jetzt gleich?
    Ein Gefäß aus Kupfer, unscheinbar, blieb noch übrig, darin eine Handvoll Asche, die an einem klaren und kalten Morgen Anfang März auf den Grund des Sees versenkt wurde, denn eine Verstreuung war das nicht, kein Windstoß kam auf, nichts stäubte, die Asche mit den perforierten Knochenstücken meines verbrannten Bruders sank mit erstaunlicher Schwere auf den Grund, an einer Stelle, wo der Kanal sich zum See weitete. Jemand meinte, er werde nie wieder in diesem Wasser schwimmen können, denn dieser See sei nun ein Grab. Das offene Wasser und dahinter die Berge, und von irgendwo näherten sich junge Schwäne, eine ganze Schule, die angezogen wurden von der Versammlung im Pavillon über der Ufermauer. Aber niemand warf Brotkrumen in den See, sondern Tulpen, Nelken und Rosen.
    Wir versammelten uns auf einer Wiese neben der Kirche, einer der ältesten der Gegend, wenn nicht des Landes, vielleicht die älteste Kirche des Universums. Diese Kirche hatte Generationen kommen und gehen sehen, von der Taufe bis zum Grab, eine nach der anderen, und jeder, der sich in ihre Bänke setzte, wurde zu einem Funken, zu einer ephemeren Erscheinung.
    Es hatte die Kirche schon gegeben, als von der Stadt noch nichts zu erkennen gewesen war. Der Dichter, über den ich damals meinen Vortrag gehalten hatte, hatte sie gesehen, auf seinen Spaziergängen am Ufer entlang musste er daran

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