Koala: Roman (German Edition)
Berge.
Niemand wusste, was nun geschehen würde, denn es gab keinen Pfarrer, der die Zeremonie leitete. Wo ein Altar hätte stehen können, waren Lautsprecher aufgestellt, mit einem Mikrofon, das jedem offenstand, der sich an die Versammelten wenden wollte. Zwei wagten es, und nach einigen hilflosen Worten und einer langen Stille erklang aus den Boxen ein Song aus der goldenen Ära der Rockmusik, ein Klassiker des Genres. Mein Bruder hatte diese Band gemocht, ich meinte mich zu erinnern, wie er bei unserem letzten Treffen davon sprach, bald eines ihrer Konzerte zu besuchen, was ich abgeschmackt fand, zu viel Nostalgie, waren doch, in meinen Augen, diese Musiker mittlerweile zu ihrer eigenen Kopie geworden. Der Song war dem Gründer dieser Band gewidmet, der nach der zweiten Schallplatte in den Wahnsinn geglitten und für die Musik verloren war, von dem aber die Eingeweihten wussten, dass er das wahre Genie und alles, was nach ihm folgte, bloß eine Kopie seines Universums war. Der Song begann mit einer zaghaften Orgelmelodie, unterlegt mit einem Akkordteppich, der eine dräuende Stimmung zeichnete. Es war eine Verheißung zur Vollendung, die irgendwann von einer Gitarre aufgenommen wurde und nach einer langen Tonfolge in eine Kadenz aus vier Tönen mündete, deren Wiederholung das Zeichen für Schlagzeug und Bass war, in ein Tutti einzustimmen, hymnisch und erlösend, um dann wieder abzuklingen, bevor der Sänger seine Zeilen anstimmte.
Er sang von einem Mann, der einst wie eine Sonne geleuchtet habe, dessen Augen jetzt zu schwarzen Löchern geworden seien, eine Seele, die nachts von Träumen gepeinigt und tags vom Scheinwerferlicht verbrannt werde, in seinem Wahnsinn untauglich für den Ehrgeiz dieser jungen Männer, die mit ihrer Musik die Welt erobern wollten. Sie schlossen den Verrückten aus und heilten ihre Gewissensbisse mit der Erfindung einer Mythologie, in deren Zentrum der verlorene Sohn stand, der Pfeifer, der Seher, der Gefangene, wie er in diesem Lied genannt wurde, das acht Minuten in gehöriger Lautstärke in den Nachmittag dröhnte. An den lautesten Stellen überschlugen sich die Membranen, aber die Dramatik der Musik verfehlte ihre Wirkung nicht, die Menschen schwiegen und hörten zu. Ich fühlte mich ein wenig betreten, weil das Lied einerseits zu dramatisch war, das Pathos zu deutlich, die ganze Szene mit der Flussmündung, der alten Kirche und dem Fährbetrieb nicht zu dieser Hymne passte. Es war sentimental, die Rührung der Anwesenden hilflos und peinlich, und doch hätte ich nicht sagen können, wie man meines Bruders anders hätte gedenken sollen. Es schien keine Form zu geben, mit der man ihn verabschieden konnte, keine Worte, die man hätte vortragen können, in keinem Buch standen die Gedanken, die hier Trost hätten spenden können. Vielleicht gab es nicht einmal einen Namen für das Gefühl, eine unmögliche Mischung von Trauer, Wut und vollkommenem Unverständnis gegenüber dem freien Willen, der sich hier gezeigt hatte. Kein Gedanke, der hätte zusammenfassen können, was vor sich ging, eine Erkenntnis, dass dieses Schicksal gleichzeitig einzigartig und hundskommun war, dass in dieser Entzauberung des Daseins durch die Feierlichkeit des Todes nichts zu lernen war. Es würde einem nichts übrigbleiben, als von hier wegzugehen und zu vergessen und sich treu an die Routinen zu halten, die man übernommen hatte. Nicht zu spät nach Tagesanbruch aus dem Bett zu steigen und die Arbeit aufzunehmen, die man am Tag zuvor niedergelegt hatte. Und der nächste Tag und der übernächste würden genau so sein, von Vergeblichkeit, die man verdrängen musste, damit man an seinem Leben eine Freude finden konnte, die wiederum nötig war, um bei Kräften zu bleiben, damit man die Pflicht erfüllen konnte – ein ewiger Kreislauf, den zu durchbrechen bedeutete, sich aus der Gesellschaft der Menschen zu verabschieden und die Einsamkeit anzunehmen.
Das war, was man meinem Bruder und keinem Selbstmörder verzieh: Sie hatten endgültig und ohne Widerruf die Arbeit verweigert. Es gab nichts als den Ehrgeiz, den Fleiß, die Unterordnung unter die Arbeit, die Annahme dieser Strafe. Wer sich widersetzte, starb wie jeder andere auch, aber kein Friedhof nahm seine Gebeine auf, eine Ruhestätte gab es für sie nicht, das ›Ruhe in Frieden‹ wurde nicht gesprochen und nicht als Epitaph in eine Platte gemeißelt. Mein Bruder hatte sich eingereiht in die Schar der Selbstmörder, unter die Unruhestifter, an die man
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