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Koala: Roman (German Edition)

Koala: Roman (German Edition)

Titel: Koala: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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vorbeigekommen sein. Und schon zu seinen Lebzeiten überstieg ihr Alter die Vorstellung der Menschen, sie hatte Epochen gesehen, die längst im Dunkeln lagen, an die es kein Gedächtnis mehr gab, bloß Legenden in alten Fibeln, die nur verschrobene Gelehrte noch kannten.
    Es war ein malerisches Gebäude, weiß verputzt, schlicht und bescheiden, mit einem freistehenden Turm und einem tiefen Vordach, dessen Sparren man mit der Hand berühren konnte, wenn man sich im Eingang danach streckte. Sie kam ohne Prunk aus wie alles hier, aber trotz ihrer Zurückhaltung wusste jeder, dass man auf jeden anderen Bau in der Gegend notfalls hätte verzichten können, auf die große, etwas plumpe Stadtkirche, die von jedem Punkt der Stadt aus zu sehen war, sogar auf das Wahrzeichen der Stadt, das Schloss mit den vier Türmen, das auf jeder Postkarte zu sehen war und mit dem die Konditoren ihre Süßigkeiten verzierten. Die wahre Kostbarkeit der Stadt war diese kleine Kirche. Schon vor tausend Jahren war sie älter gewesen, als jede menschliche Erinnerung fassen konnte, und ich erinnerte mich, dass jedes Mal, wenn wir als Kinder auf einem Streifzug aus einer Laune heraus die Klinke drückten, die Tür zu unserem Erstaunen nachgab und uns eintreten ließ in die schattige Kühle, in die ewige Leere, durch die die Generationen gegangen waren. Unsere Gemüter beruhigten sich, die Stille beantwortete die Frage, welchen Schabernack wir hier treiben könnten, was sich mit den Gesangbüchern und der Orgel anstellen ließe, eine Frage, auf die wir anderswo immer eine Antwort fanden: Auf den Baustellen, wo wir nach Feierabend auf die Kräne kletterten und in die Baubaracken einbrachen; in den Schrebergärten, wenn wir die Gemüsebeete plünderten. In dieser Kirche blieben wir brav, verweilten einen Moment in Schüchternheit. Jeder, sogar Kinder, besann sich, dass er ein Funke war, der bald erlöschen würde. Ein lauter Fluch war der äußerste Frevel, den wir uns wagten, bevor wir uns zurück ins Tageslicht stahlen. Einmal im Jahr nur besuchten wir einen Gottesdienst, aber nicht zu Weihnachten und nicht zu Ostern, es war der Tag des heiligen Georg, den wir in dieser Kirche feierten, jenes Märtyrers, den man gevierteilt hatte und der zurückgekehrt war von den Toten, um sich dem menschenfressenden Drachen zu stellen. Georg, der Nothelfer, der Schutz versprach vor den Gefahren des Krieges. An jedem dreiundzwanzigsten April versammelten sich die Pfadfinder vor dieser Kirche, frühmorgens, bevor die Schule begann, und fragten sich, wie sie diesem Heiligen nacheifern konnten – und was es zum Frühstück geben würde.
    Mir fiel auf, dass auch mein Bruder wie so viele Selbstmörder außerhalb der Kirchhofsmauern bestattet wurde. Vermutlich war gar niemand auf die Idee gekommen, die Totenfeier in dieser Kapelle abzuhalten, es war jedem klar: Mein Bruder hatte dort nichts verloren und nichts zu suchen, er musste draußen bleiben, für ihn gab es keinen Platz im Haus Gottes, keinen Platz in der Historie, aber mich tröstete der Gedanke, dass seine Geschichte älter war als diese Kirche.
    Sie reichte zurück zu den Anfängen, in Zeiten, als es keine Könige gab und die Menschen keine Schrift hatten, weiter zu jenen, denen das Feuer unbekannt war und deren Väter und Mütter die meiste Zeit nicht aufrecht gingen, sondern halb erhoben in einer Steppe weit weg von hier nach ihren Feinden Ausschau hielten, Kreaturen, deren Ahnen kleiner gewesen waren als sie selbst und deren Ahnen noch einmal kleiner, Baumbewohner mit riesigen Augen, Lemuren, deren Vorfahren die Größe einer Maus hatten und von einem Mischwesen abstammten, einem Reptil mit weit auseinanderstehenden Gliedmaßen, einem säugetierartigen Gebiss und vor allem einem Schädelfenster, das zur Eintrittsluke für die Evolution eines größeren Gehirns wurde; die Geschichte meines Bruders reichte zurück zu den Pionieren, die als Erste das Land erobert hatten, dabei auf das Wasser angewiesen blieben, Lurche, die das Meer brauchten, um sich aus ihren Eiern zu entwickeln. Sie waren dem Ursprung des Lebens nahe, als aus anorganischen Molekülen Aminosäuren entstanden, die sich eines Tages in der Ursuppe zum ersten Organismus fügten. Mit diesem Ursprung war mein Bruder als lebendiges Wesen verbunden gewesen, er trug das Alter des Lebens in sich, eine Kette, die zerbrochen war und doch eine Geschichte erzählte, die älter war als diese Kirche, älter als jedes Gebäude, älter als selbst die

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