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Kobra

Kobra

Titel: Kobra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina Czarnowske
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Sie nicht?“ 
    Ich stimme ihr bereitwillig zu und warte auf eine Fortsetzung.
    „Dann bin ich zurück ins Bett und habe weitergelesen. Ich bin wohl rasch eingeschlafen. Munter wurde ich vom Lärm und Schritten, ich war ziemlich nervös. Sie verstehen, wenn ich einmal wach werde, kann ich nicht wieder einschlafen.“ 
    Ich drücke mein Bedauern aus. Mir passiert das übrigens auch – eine reine Nervensache. Ich höre mir Frau Nilssons Beschwerden an und denke dabei, dass in dieser Minute ein Stab von Leuten geduldig, Zentimeter für Zentimeter, das Zimmer des toten Delacroix absucht und die unsichtbaren Spuren sammelt, die wir jetzt benötigen. Fußabdrücke auf dem Parkett und auf dem Teppich. Sie werden mit polarisiertem Licht fotografiert, gemessen, gefärbt, mit Hunderten anderen Abdrücken verglichen. Meine, Sophies und die der Männer von der schnellen medizinischen Hilfe werden ausgesondert. Jeder Schuhabdruck erzählt etwas über Gang, Größe und Gewohnheiten des Menschen, der ihn hinterlassen hat.  
    Wenn sich ein einziges Haar fände, wäre das wirklicher Reichtum für einen DNA-Test. Über seinen Besitzer könne man einen biografischen Roman schreiben – angefangen von seinem Alter bis hin zu dem von ihm bevorzugten Shampoo. An Zigarettenkippen ist angetrockneter Speichel. Es ist unwahrscheinlich, was sich mit diesen Tausendstel von Milligramm anfangen lässt. Das sind diagnostische Präzisionsreaktionen, die beim Vergleich sofort den Hinweis geben: „Der ist es!“ 
    Ich überlege und höre zu. Wenn jemand Delacroix beim Sterben geholfen hat, werden wir das bald wissen.
    Frau Nilsson drückt die halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus.
    „Ich glaube, das ist alles.“ Sie schaut auf die Uhr, eine kleine, kostbare Uhr. „Ich bedaure, mehr Zeit habe ich nicht.“ 
    Ich danke ihr, warte eine Sekunde und frage, bevor sie mir die Hand reicht, nebenbei: „Sie sind vermutlich zum ersten Mal in unserem Land?“ 
    Es hätte eine gewöhnliche Höflichkeitsfloskel sein können. Frau Nilsson indes lächelt verständnisvoll: „Ich dachte schon, Sie würden mich nicht danach fragen, Dr. Bouché.“ 
    Jetzt ist es an mir zu lächeln. „Wieso?“ 
    „Sie führen doch über alle Ausländer Dossiers. Wahrscheinlich wissen Sie sehr gut, dass ich als Kind in Frankreich gelebt habe. Mein Vater hat hier in einer Firma gearbeitet.“ 
    In mir regt sich das Verlangen, sie nach dem Namen dieser Firma zu fragen, ich verkneife es mir aber. Stattdessen sage ich etwas über die Ausländer und die vermuteten Dossiers, die nur in deren Köpfen existieren. Ich weiß, dass sie mir nicht glaubt, aber diese Klarstellungen sind nicht überflüssig.
    Wenn mich Frau Nilsson hat überraschen wollen, so ist ihr das jedenfalls nicht gelungen. Ich kann nicht sagen, warum, aber ich hatte die ganze Zeit über das merkwürdige Gefühl, dass sie französisch versteht. Vielleicht rührt es daher, dass Frau Nilsson wirkt, als hört sie den Gesprächen am Nebentisch zu. Ein Ausländer, der die Sprache nicht versteht, macht das nicht; bei ihm gelangen die Worte nicht ins Bewusstsein, rufen nicht diesen unwillkürlichen, kaum wahrnehmbaren Ausdruck von Billigung auf dem Gesicht hervor. 
    Ich wähle einen neutral-liebenswürdigen Ton: „Dann bleiben Sie vermutlich für länger hier, Frau Nilsson?“ 
    Frau Nilsson schüttelt den Kopf: „Leider nein. Ich habe nur noch ein paar Tage Urlaub. Auf Wiedersehen, Dr. Bouché, es war mir angenehm.“ Sie gibt mir die Hand und entfernt sich, ich setze mich wieder an den Tisch, trinke den verteufelt starken Kaffee aus und ziehe dann, ehe die Kellnerin erscheint, den Aschenbecher zu mir heran. Ich passe auf, dass ich den von Frau Nilsson zurückgelassenen Zigarettenstummel nicht beschädige, während ich ihn in eine meiner kleinen Plastiktüten stecke, die ich immer bei mir trage. Was will man machen! Falls jemand glaubt, die Arbeit eines Inspecteurs sei ein einziges Netzwerk genialer logischer Schachzüge, das von der glanzvollen Entdeckung des Verbrechers gekrönt wird, so täuscht er sich gewaltig. Die eleganten Dialoge von Inspektor Maigrets sind in Villen mit Blick aufs Meer und herrliche Parkalleen geschrieben worden. Ich lese diese Dialoge auch mit Vergnügen.  
    Nur sitze ich nicht in einer Villa am Meer, sondern habe um zwei Uhr nachts einen Toten serviert bekommen und dazu eine Geschichte, deren Pointe ich noch nicht erkennen kann. Hinterher wundern wir uns, wenn wir mit vierzig

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