Kobra
Schicksal ist ein Thema für sich, und ich habe darüber meine eigene Meinung. Jetzt ist für mich ein anderer Fakt wichtig – ein Stückchen des Mosaiks, das ich zusammensetzen muss. Mit wem hat er gegessen?
Er war allein. Poletti und seine Gattin sind da einer Meinung. Sie erklären mir, an welchem Tisch er und an welchem sie gesessen haben. Er habe den Eindruck eines Menschen mit viel Zeit gemacht, er habe sich die Musik angehört. Wann er aufgestanden und gegangen ist, wissen sie nicht. Sie selbst seien gegen halb elf in ihr Zimmer hinaufgefahren.
Ich fange wieder vom Abendessen an, möchte ein paar Einzelheiten klären. Nichts kann ich klären. Das Gespräch geht hin und her, wir tauschen Gedanken über die ungewisse menschliche Zukunft aus, über Emotionen und das Unterbewusstsein, von dort springen wir auf die Ähnlichkeit des Charakters von Franzosen und Italiener über, und ich werde unterrichtet, dass Doktor Poletti und seine Gattin noch eine Woche in Frankreich bleiben werden. Der Doktor Poletti ist wegen des Ergonomie-Symposiums hier, das morgen beginnt und wo er einen Vortrag halten wird.
„Eine höchst interessante Wissenschaft“, bemerke ich aus verständlichen Gründen vorsichtig. „Molto interessante!“
„Caro Collega!“ gestikuliert der Doktor. „Eine Wissenschaft mit außergewöhnlicher Zukunft, glauben Sie das, caro Collega?“
Er zieht eine Einladung für das Symposium aus der Innentasche und bietet sie mir mit siegesgewisser Miene an. Molto Interessante.
Ich glaube ihm. Jeder Mensch hat eine Saite im Innern, aber ich begegne nur selten Leuten, bei denen diese Saite für die Wissenschaft schwingt. Worüber hält der Kollege seinen Vortrag?
„Über experimentelle Forschungen“, verkündet er mit äußerster Bescheidenheit. „Über den Einfluss gewisser Narkotika auf die distanzkoordinatorischen Funktionen des subkortikalen Bereichs.“
Ich brauche ein, zwei Sekunden, um zu begreifen, dass ich ihn richtig verstanden habe. Und noch einige, bis mir klar wird, dass Doktor Poletti nicht die geringste Absicht hat, mich auf den Arm zu nehmen. Ich überlege – im Durcheinander des Gesprächs habe ich ihm nicht gesagt, womit sich Delacroix umgebracht hat.
Inzwischen erklärt mir Poletti, der sich freut, bei mir Verständnis zu finden, weiter seine Thematik. Fürs Erste habe er bloß mit der Drogengruppe experimentiert und werde in allernächster Zeit seine Forschungen ausdehnen.
„Morphin?“, erkundige ich mich. „Und Heroin?“
„Natürlich! Auch Heroin.“
Dann geht ihm ein Licht auf, und er fragt: „Herr Kollege, Sie interessieren sich vermutlich für die Probleme der Drogensüchtigen? Doch soviel ich weiß, ist das in Ihrem Land keine Frage von Bedeutung.“
„Rein berufsmäßig“, erkläre ich. „Unser Gast, von dem wir sprechen, Herr Delacroix, hat versucht, sich mit Morphin umzubringen.“
Doktor Poletti erstarrt mitten im Wort. „Wie das ...“
„Einfach so. Er hat die Ampullen genommen, auf die Spritze gezogen und sie sich injiziert. Das macht jeder Morphinist.“
Ich mach eine Bewegung, als stieße ich mir eine Nadel in den Arm.
„Ein merkwürdiges Zusammentreffen ...“, sagt er. Er wendet sich seiner Frau zu und erklärt ihr auf Italienisch die Lage. Sie ist sicherlich besorgt.
„Entschuldigen Sie die Frage, Herr Kollege“, beginne ich behutsam, „haben Sie nicht irgendwelche Proben von Narkotika bei sich?“
Dr. Poletti hebt die Schultern. „Nein. Warum sollte ich?“
Wirklich, warum. Aber ich ziehe Klarheit vor.
„Noch eine Frage. Wissen Sie etwas über eine Firma Lombardia, Mailand? Handelt mit Chemikalien. Herr Delacroix ist der Manager ihrer Filiale in Beirut.“
Doktor Poletti denkt nach, dann erklärt er: „Ein bekannter Name. Ich habe Prospekte erhalten, aber mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Wir bestellen unsere Chemikalien bei renommierten Firmen.“
Wir verstummen. Die Luft lädt sich mit Spannung auf. Doktor Poletti blickt wieder das Foto auf dem Tisch an und platzt heraus:
„Signore Inspecteur, ich habe mit dieser unangenehmen Geschichte nichts zu tun! Sie verstehen, es ist reiner Zufall, dass ich mich auch mit Drogen und seinen Derivaten befasse.“
Herzlich gern würde ich ihm glauben, aber es sind schon zu viele Zufälle geworden. Frau Nilsson kann zufällig Französisch. Hat zufällig eine Frau zu Herrn Delacroix hineingehen sehen. Dr. Poletti hält zufällig einen Vortrag über Narkotika. Ein
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