Kobra
Neurastheniker sind.
Eine weitere Person, die nächtliche Besucherin, hat die Szene betreten. Was hat die Frau spät abends bei Raphael Delacroix gemacht? Solange aus den Laboratorien nicht gemeldet wird, dass dort eine Frau gewesen ist, muss ich mich hüten, allzu eifrig Hypothesen aufzustellen.
Dann will mir das mysteriöse Anklopfen bei Frau Nilsson in seiner Vorsätzlichkeit nicht gefallen.
Zuletzt – Frau Nilsson kann Französisch. Zumindest versteht sie die Sprache. Ein interessantes Zusammentreffen, das ich mir notiere. Meine Überlegungen dauern nicht lange, weil sie von einem Boy unterbrochen werden, der auf der Terrasse erscheint und auf gut Glück ruft: „Dr. Bouché bitte ans Telefon! Anruf aus Athen für Dr. Bouché!“
Ich springe auf und eile die Treppe hinunter. Chloé Leroy ist längst abgelöst, die unbekannte Rezeptionistin deutet mit dem Kopf auf die Kabine.
Es folgt ein zehn oder fünfzehn Minuten dauerndes Gespräch mit einer unendlich fernen Männerstimme, unterbrochen von dem lästigen „Sprechen Sie noch?“ und sinnlosen Wiederholungen. Schließlich verstehe ich, dass am anderen Ende der Sekretär von Antonio Delacroix ist, dass sein Boss nicht in Athen ist und keiner weiß, wann er wiederkommt. Und er versteht, trotz der schlechten Verbindung, dass es in diesem Augenblick zumindest unangebracht ist, sich wichtig zu machen, denn dem Onkel von Herrn Delacroix ist ein Unglück zugestoßen, dass ein Fax folgt und wir Herrn Delacroix unverzüglich in Paris erwarten. Fürs Erste ist das genug.
Ich trete recht mitgenommen, aber zufrieden aus der Telefonzelle, denn dies war eins von den Dingen, die ich selbst erledigen wollte. Gerade zur rechten Zeit, denn Legrand führt einen Mann und eine Frau in die Hotelhalle und sieht sich hilflos nach mir um. Ich nehme an, das sind Doktor Poletti und Gattin.
Ich stelle mich nach allen Regeln vor, und Legrand verschwindet mit einem erleichterten Seufzer, wir lassen uns in einer Ecke der Halle in den Sessel nieder und versuchen uns zu einigen, in welcher Sprache wir reden wollen.
Doktor Poletti erweist sich nach Aussehen und Gemüt als echter Südländer. Er ist klein, dunkel, hat schwarzes Haar und schwarze Augen, die ihn noch dunkler machen. Er zeigt es nicht, aber es ist zu spüren, dass die Unterhaltung mit einem Vertreter der französischen Police Nationale für ihn eine interessante Episode ist, von der er bei einem Glas Rotwein in angenehmer Gesellschaft noch oft erzählen wird. Seine Frau, Signora Poletti, ist ein kleines Persönchen, mit einer Haut wie durchsichtiges Porzellan, und erinnert mich eher an eine Japanerin als an eine Italienerin. Sie schweigt und mustert mich mit weiblicher Neugier.
Die ersten Schwierigkeiten ergeben sich. Doktor Poletti kann kaum französisch, und spanisch spreche ich gerade so viel wie er. Gleich darauf stellen wir aber fest, dass er in London gewesen ist und ein bisschen englisch versteht. Das ist gut. Für uns Südländer gibt es keine Hindernisse. Schon nach drei Minuten unterhalten wir uns prächtig. Munter reden wir in einem Mischmasch drauflos, die, ohne Esperanto zu sein, auf der ganzen Welt zu hören ist. Einsatz von Mimik und Gesten unterstützen das rege Gespräch. Dabei wird mir bewusst, dass nicht ich Doktor Poletti befrage, sondern er mich. Nicht weiter schlimm, so geht’s auch. Das Quasi-Esperanto ist in voller Fahrt. Ja, ein Selbstmordversuch. Ja, Herr Delacroix gehe es sehr, sehr schlecht. (Schlechter kann es ihm gar nicht gehen!) Ja, wir, die französische Police Nationale, müssen seine Zimmernachbarn befragen. Selbstverständlich stehe uns Doktor Poletti ganz zu Diensten, mit allem, womit er uns behilflich sein könne.
Das Dumme ist, dass er uns nicht helfen kann. Er weiß einfach nichts, kennt den Herrn nicht. Seine Frau kennt ihn ebenfalls nicht.
Ich hole Delacroix Foto hervor – es ist das Passbild – und lege es vor mich auf den Tisch. (Unsere Fotografen sind ein bisschen schneller als die Ateliers.)
Doktor Poletti zuckt zusammen. Er starrt auf das Bild, ohne es anzufassen, schaut seine Frau an, und sie wechseln ein paar schnelle Worte. Ich bin ganz Ohr.
Dann wendet sich Poletti mir zu und erklärt aufgeregt unter Zuhilfenahme aller Vokabel und Gesten: „Aber ja, das ist der Herr, der gestern Abend am Nebentisch im Hotelrestaurant gegessen hat! Ein sympathischer älterer Herr, der, wer hätte das für möglich gehalten ... Was das Schicksal doch für Wege geht!“
Das
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