Kobra
bisschen viel, in der Tat.
Aus der peinlichen Situation erlöst uns Signora Poletti. Sie zwitschert ein paar Sätze auf Italienisch, und der Doktor übersetzt:
„Meine Frau fragt, ob der Selbstmord rechtzeitig entdeckt worden ist. Ob der Herr rechtzeitig Hilfe erhalten hat.“
Ich wäge meine Antwort genau ab: „Es war eine Frage von Minuten, Signora.“
Doktor Poletti legt meine Worte anscheinend im günstigen Sinn aus, denn er nennt mir einen Fall, wo irgendwo jemandem aus Versehen eine große Dosis Morphin injiziert worden ist und gerettet werden konnte, weil ihm rechtzeitig Hilfe zuteil wurde. Mich jedoch interessiert ein anderer Fall, der von Zimmer 330, bei dem es kein Versehen gegeben hat. Doch ich muss mit dem Ehepaar Poletti zu einem Ende kommen. Sie verabschieden sich sichtlich erleichtert von mir.
Ich bleibe noch ein Weilchen an dem Tisch sitzen, von der kurzweiligen Beschäftigung in Anspruch genommen, die Blätter eines hochgewachsenen Gummibaumes zu betrachten. Ich denke so an dies und das und überschlage, was mir für diesen Vormittag zu tun bleibt. Noch liege ich im Plan. Ich muss bei Desens von der Gerichtsmedizin vorbeigehen und mich mit ihm unterhalten. Sicherlich ist er mit der Autopsie schon fertig, zumindest hat er es Sophie versprochen. Ich brauche die ersten Ergebnisse aus dem Labor. Sophie wird von seinen Aufträgen berichten. Wenn mir Zeit bleibt, irgendwo im Stehen essen und wieder herkommen, um mit den übrigen aus den Zimmern in der „kleinen Etage“ zu sprechen. Wie lange das dauern wird, weiß ich nicht, aber irgendwann muss ich mich beim Minister melden. Nachmittags sind hier die anderen Gäste zu befragen und für den Abend hat meine Tochter Theaterkarten besorgt. Das kann verschoben werden. Auch meine Frau hat mir etwas aufgetragen, ich komme aber nicht darauf, was es war. Sie erteilt mir immer Aufträge. Eine aus den Zeiten des Matriarchats übrig gebliebene Gewohnheit.
Der Tag ist mit jeder Menge Laufereien angefüllt. Doch zunächst Desens von der Gerichtsmedizin.
Ich zahle und gehe hinaus, ein Taxi zu rufen.
6. Kapitel
Es gibt Namen, die scheinen für manche Leute ausgedacht worden zu sein. Der Name Desens zum Beispiel. Er ist in meinem Bewusstsein unabänderlich mit Desante verbunden, dem Mitstudenten, der mit mir in einem Semester war. Groß, hager, ein bisschen krumm wie die meisten Langen, mit einer dunklen Brille, die er wegen seiner ewig geröteten Augen trug. Clément Desante galt als der unglückseligste Pechvogel des Studienjahres.
Es wollte und wollte bei ihm nicht klappen. Im Vergleich zu unserem Desante war der legendäre Unglücksrabe Enzo Ledoux sicherlich ein stiller Glückspilz. Bei Prüfungen geriet er aus unerklärlichen Gründen immer gerade an die bösartigsten jungen Assistenten, die ihn mit Vorbedacht durchsausen ließen. Er zog die Zettel mit den verzwicktesten Fragen, immer wurde er bei der größten Kälte aus seiner Bude gejagt, die Hühnersuppe in der Mensa war gerade vor ihm in der Schlange alle. Sogar wenn er sich verliebte und die ganze Gruppe ihm geschlossen den Rücken stärkte, hatte er kein Glück. Aber das sind Geschichten für sich.
Jetzt ist Desante Dr. Desens, solider Gerichtsmediziner, ein Mann in meinen Jahren, mit dem mich nicht nur die alte Freundschaft verbindet, sondern auch der Dienst.
Das Taxi setzt mich vor der Pathologie ab, einem Meisterwerk der Architektur. Der Haupteingang ist natürlich verschlossen, man muss hintenherum, wie zu meiner Zeit. Die Gerichtsmedizin ist oben, im ersten Stockwerk – ein Labyrinth aus Korridoren und Schränken, in denen Gläser mit allen möglichen Abnormitäten stehen. Es riecht unerträglich nach Karbol, und in dieser dicken Venus-Atmosphäre spazieren Studenten auf und ab. Sie essen ihre belegten Brote, verabreden Dates, holen die weißen Kittel aus ihren Taschen und machen sich für die Übungen fertig.
Clément wartet in seinem Kabinett auf mich. Kabinett ist ein bisschen zu viel gesagt. Es ist ein kleines Zimmer mit hohen Schränken, zwischen denen kaum ein Schreibtisch und zwei Stühle Platz haben. An der Wand liegt ein Haufen Wachstuchrollen – Anschauungsmaterial für die Übungen. Aber da das Fenster nach Süden geht, ist es in dem Zimmerchen ungewöhnlich hell.
„Hallo!“, grüße ich und mache es mir auf dem harten Stuhl vor dem Schreibtisch so bequem wie möglich. „Los, lass uns das Wort der Wissenschaft hören!“
Clément langt ins
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