Kobra
Schubfach und holt fünf, sechs kleinbeschriebene Seiten aus einem Notizbuch hervor. Ich sehe, wie er hinter der dunklen Brille zwinkert. Er wird seine Bindehautentzündung offenbar nicht los. Phenol und Zigaretten sind nicht die besten Mittel dagegen.
„Eine dreckige Geschichte das mit diesem Ausländer!“, verkündet er einleitend und hält mir ein Päckchen Zigaretten hin. „Steckst du dir eine an?“
Clément vergisst regelmäßig, dass ich nicht rauche.
Was die dreckige Geschichte angeht, da sagt er mir nichts Neues, interessant ist nur, warum auch er zu dieser Überzeugung gelangt ist.
„Etwas genauer, wenn’s recht ist!“, sage ich. „Der Intuition haben wir, wie du weißt, gekündigt.“
Mein alter Freund wühlt in seinen Notizen, zieht einen Zettel heraus und schiebt ihn mir über den Schreibtisch zu. Das sieht ein bisschen merkwürdig aus, ist aber so seine Art. Er hat einen menschlichen Körper aufgezeichnet, Pfeile und Erläuterungen eingetragen und dann miteinander verbunden. Dabei ist ein verschlungener Wirrwarr herausgekommen, und ich muss den Zettel nach allen Seiten drehen, um überhaupt etwas zu verstehen.
„Kannst du’s lesen? Oder hast du die Medizin inzwischen vergessen?“
Ich habe immer über seine Handschrift gestaunt. Sie ist kindlich, naiv und passt gar nicht zu einem erwachsenen Mann. Da soll mir einer erzählen, die Grafologie wäre keine Wissenschaft und die Handschrift spiegle die Persönlichkeit nicht wider.
Oben auf dem Zettel-Labyrinth steht: „Pupillen – völlige Miosis, punktförmig. Herz – Systole. Mikroskopische Blutergüsse in den grauen Kernen.“
Er meint, alle müssten seine Rätsel verstehen.
„Los. Der Reihe nach!“, beginne ich. „Wann ist der Tod eingetreten?“
„Gegen Mitternacht.“
„Das hast du irgendwo gelesen!“, erkläre ich ernst.
Der Augenblick ist gar nicht lustig, aber das ist unser alter Scherz, und ich kann es nicht unterlassen, ihn anzubringen.
Wir hatten damals einen Professor, der, wenn er schlechte Laune hatte, besondere Fragen „zum Reinfallen“ stellte. Und schrecklich ärgerlich war, wenn ein Student zufällig die Antworten wusste. Er wurde wütend und schrie: „Das hast du irgendwo gelesen!“
„Ich bin sicher“, entgegnet Clément und nimmt unbekümmert seinen Zettel wieder an sich.
„Gut. Und die unmittelbare Todesursache?“
„Du hast es doch gelesen. Das ist Morphin oder etwas aus der Gruppe. Ich habe Proben ins Labor geschickt ...“ Er hebt die Schultern. „Das geht nicht so schnell ...“
„Nehmen wir Morphin intramuskulär an. Entspricht’s dem?“
„Ja.“
„Kein Wunder“, fahre ich fort, „der Mann war drogenabhängig. Aus Versehen eine etwas größere Dosis – und out. Hast du was einzuwenden?“
Clément schweigt, dann sagt er düster: „Warum willst du mich prüfen? Er war kein Drogenabhängiger.“
Und fügt das hinzu, was ich erwartet habe – eine Besonderheit. Drogenabhängige spritzen sich selbst, und zwar für gewöhnlich mit nichtsterilen Nadeln. Deshalb finden sich an den Einstichstellen immer Infektionen, kleine Abszesse. Bei Delacroix war auch nicht die Spur davon. Ich sitze da und höre mir Cléments Erklärungen an, denke aber an etwas anderes. Die Theorie von der Drogensucht fällt endgültig weg. Was also dann? Weshalb war dann Delacroix, dem Brief des Neffen zufolge, in Sorge? Nur wegen seiner Schmuggelware?
„Hör zu“, unterbreche ich ihn, „sag mal, würdest du dich auf solche Art umbringen? Wenn du zum Beispiel lebensüberdrüssig bist und so weiter ...“
„Unsinn!“, antwortet Clément. „Genauso?“
Er ist nicht sehr überzeugend. Es geht auch so. Und in meiner Welt haben auch die nicht überzeugenden Dinge eine Existenzberechtigung. Wenigstens solange, bis es sichere Beweise dagegen gibt.
Clément starrt mich durch die dunklen Gläser an und stellt fest: „Kommst mir ein bisschen nachdenklich vor.“
„Das bringt mein Beruf mit sich“, entgegne ich und setze mich auf dem unbequemen Stuhl zurecht. „Du siehst das Ende der dreckigen Geschichte, ich muss den Anfang suchen. Also ganz sicher: Morphin?“
„Ich warte auf die Analysen, habe ich dir doch gesagt.“
„Wenn ich die Analysen sehe, kann ich’s dir auch sagen.“ Ich grinse.
„Hör zu“, beginnt Clément. „Denkst du, dass ihn jemand ... um die Ecke gebracht hat?“
„Das denke ich. Bloß, dass zwischen Denken und Beweisen ein paar
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