Kobra
Kleinigkeiten liegen, die man Fakten nennt. Spuren von Gewaltanwendung?“
„Nein.“
„Das ist es“, sage ich, „was mir nicht eingehen will. Wenn’s die gäbe, wäre alles klar. Was meinst du, ob irgendein Betäubungsmittel verwendet wurde?“
„Wäre möglich, aber ... keins von den üblichen, die wir kennen“, überlegt Clément laut und rückt seine Brille zurecht. „Da ist so eine merkwürdige Verhärtung der mimischen Muskulatur und des Halses ... sehr nebelhaft ... Musst eben doch die Resultate abwarten.“
Ich kann ihm nicht eingestehen, dass es keine Frage von Tagen, ja selbst nicht von Stunden ist. Noch nie war es mir so eilig.
„Du verstehst doch“, erläutere ich. „Es gibt drei Möglichkeiten. Dass sich dein Patient selbst gespritzt hat – das wäre die erste. Ist das möglich? Ja, aber wenn er kein Drogenabhängiger ist und sich zum ersten Mal selbst eine Spritze verpasst, hätte er es überhaupt nicht gemacht. Zweite Möglichkeit: Jemand, der es kann, sticht die Nadel ein. Mit Delacroix’s Einverständnis. Der Patient setzt sich nicht zur Wehr, weil er seine Gründe hat – diese Welt ist ihm zuwider. Und drittens: Er wird betäubt und erhält die Spritze. Was sagt die Wissenschaft zu diesen Fragen?“
Die Wissenschaft, in Person von Clément Desens, wünscht gar nichts zu sagen.
„Wir müssen abwarten!“, entscheidet er unwiderruflich. „Ich will in meinem Computer nach alten Aufzeichnungen suchen.“
„Was du da finden willst, das steht da nicht drin!“, beruhige ich ihn. „Aber gut. Ich warte. Haben unsere Leute mit dir im Einzelnen besprochen, wie du dich verhalten sollst, wenn dich jemand anruft?“
„Haben sie.“
Also klar. Nun kann die Falle aufgebaut werden, deren Hauptbestandteil gewisse, Sonograf genannte, Apparate sind. Aber das ist eine technische Angelegenheit für sich, und ich habe keinen Grund, sie ihm zu erklären. Es ist auch keine Zeit mehr – Clément muss zu den Übungen.
Ich stehe auf, um die Audienz zu beenden, und mein Freund vollführt komplizierte Manöver in dem kleinen Zimmer, um mich zur Tür zu bringen. Wir verabschieden uns, und ich tauche wieder in die Karbolatmosphäre zwischen den Schränken mit den Gläsern ein.
Ich trete vor das Gebäude und kneife die Augen vor der gleißenden Sonne zu. Die Menschen gehen dahin, ein jeder mit seinen Sorgen, und niemand interessiert sich für Raphael Delacroix’s Tod, mich ausgenommen.
Zwei Frauen kommen, mit Taschen beladen, vom Einkaufen, ein Vater schiebt einen Kinderwagen mit einem verschlafenen Säugling vor sich her – sie gehen in die nahe Anlage. Aus seiner Tasche ragt die nicht fertiggelesene Morgenzeitung. Auf der anderen Seite spielen Kinder in einem asphaltierten Schulhof Basketball und schreien, was die Kehle hergibt. Es sind Ferien, Basketball kommt beim Sportunterricht immer zu kurz, und sicherlich spielen sie von morgens bis abends.
Ich gehe am Zaun der Schule entlang und ertappe mich dabei, dass ich den Jungen im Hof zuschaue, auf ihr Geschrei höre und nicht mehr an Raphael Delacroix’s Tod denke, wie sich das gehört hätte. Einst habe ich auch an diesem Ort gespielt. Als wäre es gestern gewesen. Nur dass es damals das dreigeschossige Schulgebäude, die Spielplätze und den asphaltierten Hof nicht gab. Hier zog sich eine Wiese hin, von einem kleinen Hügel geziert. Wir nannten die Stelle: das Hügelchen. Und wir spielten nicht Basketball, von dem wir noch nicht mal was gehört hatten, sondern kickten einen alten, mit geduldig gesammelten Francs gekauften Fußball. Wir spielten mit Hingabe, bis der Fußball in der Dämmerung verschwamm.
Der Zaun ist zu Ende, und Raphael Delacroix nimmt erneut von meinem Bewusstsein Besitz. Ich muss die ersten Resultate aus den Labors sehen. Ich bin ein bisschen im Verzug, und das Mittagessen, das ich gemeint hatte, wenigstens im „Schnellimbiss“ im Stehen absolvieren zu können, erscheint mir in weite Ferne gerückt.
7.Kapitel
Wie ich vermutet habe – das Mittagessen wird verschoben. Ich sitze hinter meinem Schreibtisch in der Dienststelle und kaue Chips und Käse, die ich mir unterwegs gekauft habe. Das heißt, ich esse nicht zu Mittag, sondern schlinge die unerlässliche Menge Kalorien hinunter.
Auf meinen Schreibtisch liegen wie eine Patience ausgebreitet die ersten Laborergebnisse und ein paar weitere Informationen. Das Wort „Patience“ ist nicht zufällig. Das ist eine mir ureigene Methode. Ich
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