Kobra
Millionen Frauen von mittlerem Wuchs, Französinnen und Ausländerinnen, hübsche und hässliche, moderne oder altmodische. Unter denen muss ich eine mit genauso einem Schuh Größe 38 herausfinden. Suchen Sie, Dr. Bouché!
Dupont sieht diskret auf seine Uhr. Er gehört zu den Menschen, die ich zwar achte, aber nie verstehen kann. Die Menschen mit der absolut abgemessenen Zeit. Er weiß, was er in dieser und der nächsten Stunde und am nächsten Tag und während des Monats zu tun hat. Er weiß im Voraus, welches Buch er in dieser Woche liest und welches Theaterstück er sich in diesem Monat ansehen wird. Sogar wenn ich ihn nachts aus dem Bett hole, meldet er sich am Telefon so, als sei auch das in seinem Programm vorgesehen. Er hat Physik studiert, und in seinen blauen Augen ist viel Intelligenz und Ordnung.
„Anders kommen wir nicht klar“, hat er einmal zu mir gesagt. „Der Mensch lebt nicht lange, da braucht er in allem Ordnung, Dr. Bouché.“
Ich würde gern wissen, ob er tanzen geht und eine Freundin hat, die ihm seine Ordnung stört, aber das herauszufinden ist nicht meines Amtes. Meines Amtes ist es, Delacroix’s Tod aufzuklären. Deshalb begebe ich mich, nachdem ich Dupont gedankt und sein Gutachten in die Mappe mit der Patience getan habe, ins Hotel.
Draußen ist ein tropisch sonniger Tag wie in jenen heißen Städten des Südens mit grellweißen Häusern und trägen Palmen. Die Stadt ist still, und der Eiffelturm schwimmt im Nachmittagsdunst, nahe und unwirklich.
Ich gehe die Avenué de Suffren entlang, im Schatten der Kastanien, und denke an Delacroix. Wen hat Delacroix kennen können? Oder war es doch die Nilsson, und sie lügt mich unverfroren an? Seit seinem Tod sind nur zwölf Stunden vergangen ...
Dann versinken alle diese Gedanken tief im Unterbewusstsein. Ich spüre, dass sie dort sind und hartnäckig bleiben, aber mein Bewusstsein ist bereits mit konkreten Dingen beschäftigt.
Auf dem Weg zum Hotel fasse ich den Entschluss, einen Abstecher zum Büro der Amira Air zu machen. Ich möchte ein paar Erkundigungen einziehen. Das Büro finde ich leicht, stehe aber vor verschlossener Tür. Daran hängt ein elegantes Schild: „Öffnungszeiten von 10 bis 12 und 15 bis 17 Uhr.“ Die übrige Zeit ist offenbar geschlossen.
Ich streiche ein Weilchen in der vergeblichen Hoffnung um die breite Fensterfront herum, dass doch jemand öffnet und mir ein nochmaliges Herkommen erspart, aber das Schild ist unerbittlich: „10 bis 12 und 15 bis 17 Uhr.“
Ich winke ab und gehe weiter. Ich nehme mir vor, mich nicht zu ärgern, denn ich habe noch viel zu tun.
8.Kapitel
In der Rezeption des Hotels ist nur die Angestellte für den Tag. Jean Legrand ist gegangen. Schließlich muss der Mann ja auch einmal schlafen nach der aufregenden Nacht. Doch es bedarf kaum zusätzlicher Erklärungen, Legrand hat Sorge getragen, die beiden noch ausstehenden Begegnungen für mich zu verabreden – mit Ingenieur Neumann und Claude Moliére. Es muss nur bei Neumann angerufen und ihm gesagt werden, dass ich im Café auf ihn warte.
Ich gehe an den bekannten Tisch neben dem Gummibaum vor Anker und versuche, mich wieder dem Milieu anzupassen. Nichts Besonderes. Wenige ältere Leute, vornehmlich junge. Zwei Mädchen am Nebentisch trinken stilles Wasser mit Rotwein (wo mögen sie das gesehen haben?) und schauen von oben herab auf die Straßenpassanten. Sie sehen aus wie Kandidatinnen fürs Studium, denen die Universität so gut wie sicher ist.
Übrigens gibt es in unserem Beruf eine geheiligte Regel: Nicht allzu sehr nach dem Äußeren der Menschen zu gehen. Papa Lombrosios mit seinen „angeborenen Zügen des Verbrechens“ kann sich begraben lassen. Ich habe eine Frau mit einem Engelsgesicht gesehen, die kaltblütig und mit Vorbedacht um irgendeines Besitzes willen ihren Bruder vergiftet hat. Und habe gesehen, wie ein Vater mit dem Aussehen eines ausgemachten Halunken die Untersuchungsbehörde zu überzeugen versuchte, dass er einen Diebstahl begangen hatte, bloß um die Schuld seines Sohnes auf sich zu nehmen. Habe schon allerhand gesehen.
Und trotz alledem kann ich mich des ersten Eindrucks nicht entziehen. Man kann es nennen, wie man will – Intuition, Instinkt oder wie auch immer, aber der Eindruck, den ein Mensch auf den ersten Blick hervorruft, drückt das Wesentlichste aus, das er in sich trägt. In neun von zehn Fällen steht es dem Kriminellen im Gesicht geschrieben, dass er ein Verbrecher
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