Kobra
unterbreite Informationen und Vermutungen, der Minister schiebt die Tasse mit dem kalten Kaffee hin und her, wirft Bemerkungen ein.
All das erinnert mich sehr an die „Differenzialdiagnose“ – in der Medizin gibt es so einen Ausdruck. Der Patient liegt da, und der Arzt lässt sich alle möglichen und unmöglichen Krankheiten durch den Kopf gehen, die für einige der Symptome zutreffen. So etwas wie eine Prüfung der Auffassungsgabe und der Kenntnisse. Bloß, dass ich es jetzt bei meiner Differenzialdiagnose statt mit einem Kranken mit dem toten Delacroix zu tun habe und die Symptome recht unerfreulich aussehen.
Es ist klar – der Kreis ist geschlossen. Wenn Delacroix ermordet worden ist, müssen wir den Mörder oder die Mörderin unter den Leuten aus der „kleinen Etage“ suchen, da zwischen halb elf und zwölf niemand die Etage verlassen hat.
„Niemand“ sage ich unter Vorbehalt, und der Minister bemerkt das sofort. Der Österreicher von 325, Ingenieur Neumann, ist weggegangen und wiedergekommen. Dies ist die Ausnahme. Doch alle anderen sind in ihren Zimmern gewesen oder erst gekommen und bis zum Morgen geblieben.
„Ja, aber einer ist bereits abgereist, der Archäologe“, wirft der Minister ein. „Das ist das Vertrackte an unserem Fall, Bouché, dass wir niemanden an der Abreise hindern können, solange wir keine sicheren Indizien haben. Mit welcher Begründung? Zu guter Letzt sitzen wir mit unserem Toten allein da. Wenn jemand in dieser Geschichte die Hände im Spiel hat, was würde der machen? Versetz dich an seine Stelle.“
„Ich würde hierbleiben“, sage ich. „So ein schlau eingefädelter Mord, falls es überhaupt Mord ist, kann nicht der einzige Zweck sein. Eine Kugel, und das nicht in Paris, sondern in irgendeiner stillen Beiruter Gasse ...“
„Logisch.“ Der Minister nickt. „Weiter.“
„Ein Selbstmord wird vorgetäuscht, wenn der Mörder in der Nähe ist, in der Nähe bleiben und auch in Zukunft unbemerkt bleiben will ...“ Das ist eine Binsenweisheit in der Kriminalistik, und ich erlaube mir nur, sie vor dem Minister zu wiederholen, um meine Version zu vervollständigen, die ich in der nächsten Minute darlege. Der Minister hört mich bis zum Schluss an, ohne mich zu unterbrechen.
„... alle, die ein Interesse an Delacroix’s Tod haben, werden hier sein, bis ...“ Ich suche nach den passenden Worten, um zum Ende zu kommen“... bis sie wissen, ob sie ihr Vorhaben verwirklicht haben oder nicht. Ein Delacroix, der es überlebt hat, ist ihnen nicht gefährlich. Das Heroin im Köfferchen nötigt ihn, den Mund zu halten. Den Mund zu halten und zuzusehen, wie er da rauskommt. Aber wenn sie bemerken, dass er gestorben ist ...“
„Ja?“
„Wenn sie bemerken, dass er gestorben ist, müssen wir den nächsten Schachzug erwarten.“
„Du rechnest damit, dass er kommt?“
„Sicherlich, Herr Minister.“
Anscheinend bin ich überzeugend, denn die Tasse mit dem Kaffee wandert nicht über den Schreibtisch.
Als ich nach zehn Minuten in mein Büro zurückkomme, finde ich dort den Trassologen Dupont vor. Er reicht mir ein dicht beschriebenes Blatt Papier und wartet ab, um zu sehen, was nun folgt.
Es ist das Gutachten der Spurensicherung. Darin steht allerlei, einschließlich, dass auf dem Teppich Glassplitterchen gefunden wurden, wahrscheinlich von den abgebrochenen Ampullenverschlüssen. Das wichtigste jedoch ist – Spuren von Frauenschuhen! Schuhe mit schmalen, modernen, hohen Absätzen, etwa Größe 38. Da war ein nächtlicher Besuch einer Frau, wie Frau Nilsson mir bestätigte. Delacroix hat also in diesem Zimmer eine Frau empfangen. Angeblich nach zehn Uhr abends. Ich kann mir vorstellen, was es für eine Arbeit gewesen ist, diese Abdrücke von den übrigen Fußspuren auf dem Parkett auszusondern: Delacroix’s eigene Fußspuren, die der Leute von der Schnellen Medizinischen, die unserer Mitarbeiter, meine und Sophies. Aber die Frau ist Fakt.
„Nun?“, frage ich und zeige auf den Stuhl neben mir.
„Was?“
Dupont setzt sich und berichtet ohne überflüssige Worte. Die Abdrücke sind nicht sehr deutlich, aber man kann ihnen folgendes entnehmen: Die Frau ist mittelgroß, eher groß, hat einen normalen Gang. Die Schuhe sind neu, vielleicht ein bisschen unbequem, weil sie mehr mit der Ferse aufgetreten ist, aber das ist bei neuen Schuhen nicht verwunderlich.
Sehr tröstlich, fürwahr! In Frankreich gibt es im Sommer wenigstens zwei
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