Kobra
ist. Das Fatale: Während im gewöhnlichen Leben diese Einschätzungen hingehen, sind sie für uns gefährlich. Denn gerade der zehnte Fall, die Ausnahme, kann verhängnisvoll sein.
Doch was ich auch denke, Neumann ist mir von Anfang an unsympathisch. Ich bemühe mich, dieses Gefühl zu unterdrücken, aber es ist da und will nicht verschwinden.
Neumann ist einer dieser gepflegten Männer mit sportlicher Figur und leichter Sonnenbräune auf dem glatten Gesicht, die gleichsam für die Werbung von Automobilen geboren sind: „Der erfolgreiche Mann kauft nur Oldtimer!“ - „Nur Oldtimer – Schnelligkeit und Eleganz!“ Er ist groß, blond, hat ungewöhnlich blaue Augen, die so durchsichtig sind, dass ich beim Vorstellen für einen Augenblick glaube, ich sehe durch ihn hindurch oder er durch mich.
Wir setzen uns, und während ich die bekannte Rede beginne, dass ein Gast des Hauses, der auf seiner Etage wohnt und sofort, beobachten wir uns gegenseitig. Nein, er gefällt mir entschieden nicht. Ich habe gegen niemanden ein Vorurteil, aber wenn ich irgendwo den SS-Mann neuen Typs beschreiben sollte – Neumann wäre genau richtig. Ich nehme an, dass ich ihm auch nicht sehr gefalle. Wer weiß, wie ich in seinen Augen aussehe. Wie ein oberflächlicher, französischer Agent sicherlich.
Völlige Distanz. Nichts von der Unmittelbarkeit einer Frau Nilsson, die von der Macht ihrer Weiblichkeit überzeugt ist. Nichts von der Kontaktfreudigkeit des Ehepaars Poletti. Neumann hört sich alles an, was ich zu ihm sage, stellt keine Fragen, als ginge es ihn nichts an. Und das beginnt mich zu reizen.
Ich schließe mit der vorbereiteten Phrase: Er möchte sich bitte erinnern, ob ihm etwas aufgefallen sei.
Nichts ist ihm aufgefallen. Ingenieur Neumann kannte den Bewohner von Zimmer 330 überhaupt nicht. Genauso drückt er sich aus: Den Bewohner. Der Lärm in der Nacht habe ihn nicht gestört, und er habe sich nicht darum gekümmert. Das sei normal in „solchen“ Hotels.
Langsam fange ich an zu kochen, sosehr ich mich auch um Beherrschung bemühe. Dieser sportliche Herr ist bei sich zu Hause wohl kaum in einem solchen Hotel abgestiegen, und wer weiß, wie beengt er wohnt. Seine Überheblichkeit kann mir nicht imponieren, höchstens den beiden am Nebentisch (mit dem Wasser und Rotwein), die ihm schräge Blicke zu werfen.
Gereiztheit ist ein schlechter Ratgeber. Vielleicht ist das einfach seine Art zu reden, und er will mich gar nicht beleidigen. Machen wir weiter.
Mit den Augen rufe ich die Kellnerin herbei. Für mich einen Kaffee, wer weiß, der wievielte heute. Herrn Neumann lasse ich selbst bestellen. Nein, er möchte nichts. Er schweigt ein Weilchen, dann fragt er: „Hat die französische Police Nationale weitere Fragen an mich?“
Er provoziert offenkundig. Ich wähle den höflichsten Ton, der mir möglich ist: „Herr Neumann, können Sie sich erinnern, wann Sie gestern in Ihr Zimmer gegangen sind? Es ist wichtig für uns.“
„Steht diese Frage im Zusammenhang mit dem Tod Ihres Gastes?“
Vielleicht sagt er nicht zufällig „Tod“.
„Aber Herr Neumann, ich habe nicht gesagt, dass unser Gast gestorben ist. Haben Sie es etwas so verstanden?“
Die durchsichtigen Augen mustern mich aufmerksam. Ich lächle munter und füge hinzu: „Unsere Ärzte kümmern sich um Herrn Delacroix.“
Unter „unsere Ärzte“ verstehe ich Desens, halte es aber nicht für notwendig zu erklären, worum sich ein Gerichtsmediziner im Einzelnen kümmert.
Neumann hebt gelangweilt die Schultern. „Dann habe ich Sie falsch verstanden. Was möchten Sie wissen?“
„Wann sind Sie gestern Abend in Ihr Zimmer gegangen?“
„Das weiß ich nicht mehr.“
„Wenigstens annähernd. Versuchen Sie, sich zu erinnern!“ Wieder lächle ich aufmunternd.
„Wir haben zu Abend gegessen, dann habe ich meine Verlobte nach Hause gebracht und bin zurückgekommen. Es kann so vor Mitternacht gewesen sein. Ist das denn so wichtig?“
„Bedaure, ja, es ist wichtig.“
Neumann schweigt.
„Vielleicht könnte Ihre Verlobte ...“, beharre ich, „sich erinnern, wann Sie sie nach Hause gebracht haben? Sie könnten sie fragen.“
Neumann zieht die Brauen zusammen und steht abrupt auf. „Ich protestiere, Herr Inspecteur! Ihre Geschichten interessieren mich kein bisschen, und ich halte mich nicht für verpflichtet, Ihnen Erklärungen zu geben! Und meine Verlobte können Sie damit schon gar nicht behelligen!“ Er
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