Kobra
Sprachen je hundert Wörter kennen, aber eben deshalb für die großen Hotels unentbehrlich sind. Ich bin sicher, wenn ihn jemand auf altsarmatisch anspricht, mit dem kommt er auch klar.
„Ja, und weiter? Er stand also auf und ging?“
„So war es. Er stand auf und ging. Nahm seine Tasche und ging.“
Nur, dass er sich auf einen sehr weiten Weg begeben hat.
„Und welchen Eindruck hat er auf dich gemacht ... so im allgemein?“
Jules überlegt einen Augenblick, dann hebt er die Schultern. „Wissen Sie, Dr. Bouché, das kann man nicht genau sagen, aber da war was.“
„Was? Versuch dich zu erinnern, wenn du kannst.“
„Bei solchen Sachen kann man sich auch täuschen, aber ... als ich ihm sagte, dass er verlangt wird, hat er sich umgesehen. So ein bisschen eigenartig.“
Jules zeigt, wie. Er imitiert großartig – ein flacher, argwöhnischer Blick.
Also war das Gespräch für Delacroix tatsächlich eine Überraschung. Ich versuche, noch etwas herauszubekommen, aber erfolglos. Mehr weiß Jules Lacroix nicht.
„Was macht der Sohn?“, erkundige ich mich nun schon nach privaten Dingen.
Lacroix angespanntes Gesicht hellt sich auf. Der Sohn ist ein kluger, properer Junge, und wenn Jules etwas von den Gaunereien abgebracht hat, die er früher so virtuos beging, so seine grenzenlose Zuneigung zu seinem Sohn.
„Es geht ihm gut, Dr. Bouché. Er kommt dieses Jahr aus dem Gymnasium, ist Bestschüler.“
„Wunderbar!“
„Ich wollte Sie dieser Tage sowieso aufsuchen, Dr. Bouché ... wegen des Jungen ...“
Sicherlich wegen irgendeiner Stelle. Aber das, nehme ich an, kann Jules zehnmal besser als ich.
„Fürsprache, das ist doch deine Spezialstrecke“, sage ich und lächle. „Warum kommst du da zu mir?“
Jules lächelt nur mit den Lippen.
„Er kandidiert im Bergbau-Geologischen Institut ... Und da bitte ich Sie inständig, helfen Sie ihm, Dr. Bouché. Er kann doch nichts für seinen Vater.“
Mein Scherz löst sich in Luft auf. Ich schaue zu Sophie hinüber, aber die beschäftigt sich plötzlich intensiv mit den kulinarischen Neuigkeiten in der gläsernen Kühlvitrine. Ihre Miene sagt unzweideutig: Wenn es schon Vorgesetzte gibt, sollen sie in solchen Situationen auch allein zurechtkommen.
„Und wer hat gesagt, dass dein Junge was dafür kann?“
„Gesagt hat das niemand“, erläutert Lacroix, „aber ich hab’s so verstanden. Sie wissen doch, bei so einem Vater werden sie ihn nicht zulassen. Dabei ist er Bestschüler, ich kann Ihnen sein Zeugnis zeigen.“
Fragen von Studien-Bewerbungen sind ganz und gar nicht mein Spezialgebiet. Wir haben eine Spur, an der ich dranbleiben muss, und wenn Jules Lacroix wüsste, wie viele Dinge von jeder Minute abhängen ...
Ich sehe, wie sich auf seinem Gesicht Enttäuschung ausbreitet.
„Na ja“, sagt er und winkt ab. „Irgendwie werden wir’s schon hinkriegen.“
Ich hasse solche Situationen. Da fühle ich mich unbehaglich, als nähme ich eine fremde Schuld oder Dummheit auf mich. Aber für Jules Lacroix’s Jungen gehe ich ins Bergbau-Geologische.
„Gut“, willige ich ein. „Ich sehe mal nach. Wenn da was ist, was mit dir zusammenhängt, wird das geregelt. Aber Prüfung bleibt Prüfung, das weißt du.“ Ich merke, wie ihm ein Mühlenstein von den Schultern fällt, und mir wird auch leichter ums Herz.
Ich wende mich zum Gehen. Sophie löst sich mit unschuldigem Blick von der Kühlvitrine. Wir gehen durch den Korridor und schweigen. Wahrscheinlich denken wir beide dasselbe.
„Von wo aus wurde gestern Abend mit der Garderobe gesprochen“, sage ich nicht allzu überzeugt. „Vielleicht findest du das heraus. Von drinnen, vom Hotel aus oder von außerhalb.“
Meine Zweifel sind begründet. Gestern Abend haben mindestens zehn Leute mit der Garderobe gesprochen, von inner- wie von außerhalb. Aber wir müssen alles auseinanderfitzen, dürfen nicht die geringste Kleinigkeit übergehen.
Sophie begibt sich zur Telefonzentrale, ich zur Rezeption. Mittlerweise hat Chloè Leroy den Nachtdienst angetreten. Vor ihr stehen drei große blonde Männer mit Sportsachen, denen sie geduldig erklärt, dass ein Versehen passiert sei. Dann verhandeln sie untereinander, und während sie das tun, wirft mir Chloè einen fragenden Blick zu.
„Bitten Sie das Ehepaar Schultz von 329 zu einem Gespräch, falls es ihnen passt. Ich erwarte sie hier. Sie wissen, worum es geht.“
10.Kapitel
Kurz darauf erscheinen die
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