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Kobra

Kobra

Titel: Kobra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina Czarnowske
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bringt mich in meine Etage. Ich werde mich hinlegen und in aller Ruhe ausschlafen, weil alles erfolgreich verläuft.
    3. Etage. Ich betrete den Korridor. Alles ist ruhig und still – der Korridor liegt im Dämmerlicht, irgendwo gehen Leute, aber das kümmert mich nicht, ich bin Raphael Delacroix. Die Biegung nach links, 326, 328, 330 – mein Zimmer. 
    Der Schlüssel dreht sich mit einem trockenen Knacken im Schloss. Ich trete ein und drücke auf den Lichtschalter. Der Vorraum liegt ruhig im weichen, matten Licht. Zeit zum Schlafengehen. Gute Nacht, Señor! 
    Ich setze mich auf die Bettkante und denke nach. Ich bin Raphael Delacroix, der seiner Sache – dem Drogenschmuggel – sicher ist. Es ist nicht das erste Mal, dass ich hier bin, und ich weiß, wie alles weiter gehen wird. Morgen wird irgendein französischer Zollbeamter nicht einmal einen Blick auf mein Köfferchen werfen, aber auch wenn er’s tut – er wird nichts Besonderes finden. Das Risiko ist minimal, praktisch gibt es keins. In zwei Stunden bin ich in Wien. Noch auf dem Flugplatz oder im Taxi wird man sich um die Sendung kümmern, das ist alles. Ein Spaziergang, dann Mittagessen in einem der kleinen Lokale um den Schönbrunner Tiergarten. Das Flugzeug nach Mailand fliegt am Nachmittag, ich habe genug Zeit. 
    Dies sind vielleicht die Gedanken Raphael Delacroix’s. Aber dann geschieht hier in diesem Zimmer etwas. Es spielt sich eine unvorhergesehene Szene ab. Sie könnte mit einem Klingeln des Telefons beginnen. Eine bekannte Frauenstimme sagt ein paar Worte. Und Schritte, die den Korridor entlangkommen. Dieses Gefühl ist so deutlich, dass ich die Schritte gleichsam deutlich höre. Schritte einer Frau. Delacroix ist aufgestanden und hat geöffnet. Eine Frau ist eingetreten. Was folgte danach? 
    Bitten und Vorwürfe? Erpressung? Auf jeden Fall ein Gespräch, das Delacroix keinen anderen Ausweg ließ, als den Griff nach der Spritze. Er, der sicher war, dass er morgen irgendwo beim Tiergarten in Wien zu Mittag essen würde.
    Da liegt die Spritze. Angefüllt mit Tod.
    Ein ruhiger, eleganter Tod. Delacroix hat nach ihr gelangt. Hat sie kaltblütig genommen und versucht, sich die Nadel in die Vene zu stoßen. Im nächsten Moment ...
    Der nächste Moment ist recht lang. Ich halte die Spritze in der Hand und betrachte sie, als sähe ich sie zum ersten Mal.
    Delacroix hat sich die Spritze nicht selbst verpasst – ich brauche Zeit, um mir dessen voll bewusst zu werden. Ich versuche, sie so anzufassen, wie die Fingerabdrücke sind, aber da kommt etwas völlig Unsinniges heraus. Eine Spritze hält man nicht wie einen Dolch. Seine Fingerabdrücke sitzen so auf dem matten Glas, dass er sich gar nicht hätte selbst spritzen können.
    Meine Entdeckung ist so überraschend, dass ich die Spritze instinktiv auf das Nachtschränkchen zurücklege und mich frage, wo ich einen Fehler begangen habe. Nein, die Ellipsen aus schwarzer Tusche auf dem Glaszylinder sind eindeutig. Zwei Abdrücke des Daumens mit der Spitze zur Nadel. Der Zeige-, Mittel- und Ringfinger auf der anderen Seite. Auf dem Kolben noch ein Daumenabdruck derselben Hand. Diese Lage ist unmöglich.
    Delacroix hat sich nicht selbst umgebracht! Raphael Delacroix ist ermordet worden! Von jemandem, der das von langer Hand vorbereitet, der die Umstände studiert, Ort und Zeit ausgewählt hat, um zuzuschlagen. Mit teuflischer Berechnung hat er schlau einen Selbstmord vorgetäuscht. Alles ist bedacht, die ganze Dekoration ist vorhanden, jede Episode durchgespielt – von den Ampullen auf dem Nachtschränkchen bis hin zu ... Ich scheue mich geradezu, es zu denken: Vielleicht bis hin zu dem zerrissenen Brief im Papierkorb. 
    Da liegt die Spritze, und ich kann den Blick nicht von ihr losreißen. Diese Spritze hat Delacroix nicht lebend in der Hand gehalten. Gehalten hat sie jemand, der Gummihandschuhe trug und die erkaltenden Finger auf das Glas gedrückt hat. Alles ist im Voraus bedacht worden.
    Mein Bewusstsein ist so geschärft, derart angespannt, dass ich nicht mehr still sitzen kann. Ich stehe auf und beginne im Zimmer hin und her zu gehen. Ich verspüre das Bedürfnis, etwas zu tun. Einerlei was, nur um meine Gedanken ordnen zu können.
    Zum wievielten Mal stelle ich heute nun schon Vermutungen an? Alle waren mir logisch vorgekommen, wohlbegründet, und alle sind der Reihe nach geplatzt. Bleibt nur eines – den Mörder von Raphael Delacroix zu suchen. Ich muss die Motive für den Mord klären. 
    Vier

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