Kobra
Schultzes. Die Fahrstuhltür öffnet sich, und als erstes kommt das Kind heraus – ein glatt gekämmter Junge, der vor seiner Mutter hergeht. Ich werde in meinen Erwartungen ein wenig enttäuscht. Wir stellen uns die nördlichen Völker immer blond und blauäugig vor. Schultzes jedoch sind dunkel, alle beide. Der Mann hat ein intelligentes Gesicht, von jener Art, die geradezu typisch ist – hohe Stirn, schmale Backenknochen und graue, aufmerksame Augen hinter einer Brille mit dünnem Goldrahmen. Die Frau ist etwas über dreißig und offenbar schon um ihre Schönheit besorgt, erkennbar an der Mühe, die sie darauf verwandt hat – eine modische Frisur, Lidschatten und eine etwas eigenartige hellbronzefarbene Schminke. Was die Mode nicht alles macht!
Sie wissen beide, worum sich das Gespräch drehen wird. Und während wir uns bekanntmachen, und ich darlege, dass mein Deutsch nicht gerade so ist wie ... und so fort, erklärt Frau Schultz, dass sie den ganzen Tag unter dem Eindruck des Ereignisses der letzten Nacht stünden. Der Mann erkundigt sich höflich, ob der ältere Herr von gegenüber schon außer Gefahr sei. Ich überhöre die Frage, weil ich im Augenblick das begonnene Gespräch mit Frau Schultz fortführe und wir in den Hallensesseln Platz nehmen. Offensichtlich hat Herr Schultz meinen simplen Trick bemerkt, denn hinter den Brillengläsern blitzt für einen Moment ein verstehender Blick auf. („Ja, ja, Sie haben völlig recht, mir nicht zu antworten, das bringt Ihr Dienst mit sich, entschuldigen Sie meine Neugier.“)
In der nächsten Minute stellt sich heraus, dass sie Delacroix gesehen haben. Das war gestern Abend.
„Um welche Zeit, Madame?“
„Vielleicht kurz nach acht ...“ Frau Schultz zögert und sieht ihren Mann an.
„Auf jeden Fall gegen acht“, sagt dieser. „Genau können wir das nicht angeben, weil wir diese Begegnung überhaupt nicht beachtet haben. Es war ein kleiner Zufall ...“
„Ein Zufall? Da bin ich sehr neugierig.“
„Eine Kleinigkeit.“ Herr Schultz lächelt. „Der Junge lief durch den Korridor zu unserem Zimmer, als wir nach Hause kamen, und ... er ist immer so schusselig ... rannte gegen den Herrn, der gerade aus der Tür kam.“
Der Junge sitzt schuldbewusst auf der Sesselkante und kann sicherlich nicht begreifen, warum sich die Erwachsenen mit seinen gestrigen Sünden befassen. Aber es muss etwas gegeben haben.
Ich bitte Herrn Schultz, mir das ein bisschen auszuführen.
„Sehen Sie“, er glaubt wohl, dass ich ihn nicht richtig verstanden habe, „unser Lars läuft durch den Korridor. Meine Frau und ich, wir kamen weiter hinten. Und gerade, als wir um die Ecke bogen, stieß Lars mit dem Herrn zusammen. Er war offenbar aus seinem Zimmer getreten. Lars fiel hin, und der Herr hat ihn sofort aufgehoben und beruhigend auf ihn eingeredet.“
Hier ist eine kleine Differenz in den Details, die ich klären möchte.
„Haben Sie gesehen, dass Herr Delacroix aus seinem Zimmer kam?“
Axel Schultz sieht mich verwundert an.
„Ich nehme es an“, sagt er, aber sein Ton ist schon nicht mehr so sicher.
Also haben sie es nicht gesehen.
„Larschen!“, beginnt Frau Schultz. „Dieser Herr gestern, der ... was hat der gemacht, als du gelaufen kamst?“ Frau Schultz stockt und sieht mich hilflos an.
„Ich weiß nicht, Mami.“
Natürlich weiß es das Kind nicht, sonst hätte es ja keinen Zusammenstoß gegeben. Und für mich ist wichtig zu erfahren, ob Herr Delacroix aus seinem Zimmer gekommen ist. Ich spüre indes, wenn ich weiterfrage, bekomme ich genau die Antwort, die ich hören will, denn sie haben Delacroix nicht gesehen, als er herauskam.
„Und dann, Herr Schultz?“
„Meine Frau und ich hörten, wie Lars hinfiel. Wir liefen hinzu und sahen den Herrn, der Lars aufgehoben hatte und etwas zu ihm sagte.“
„Was hat der Herr dir gesagt, Larschen?“, mischt sich Frau Schultz ein.
„Ich habe ihn nicht verstanden, Mami.“
Also hat er nicht deutsch gesprochen. Das ist natürlich. Wenn jemand überrascht ist, greift er gewöhnlich auf seine Muttersprache zurück.
„Was geschah danach, können Sie sich erinnern?“
„Nichts Besonderes. Ich habe mich bei dem Herrn entschuldigt und meine Frau hat mit Lars geschimpft, weil er nie aufpasst. Der Herr sagte, wir sollten nicht böse mit Lars sein – Kinder liefen nun mal gern. Er war sehr freundlich.“
„Wie sah der Herr aus?“
„Was soll ich sagen. Ruhig, aufmerksam.
Weitere Kostenlose Bücher