Kobra
Frühstückssaal, dem sogenannten Grünen Salon. Früher, als das Hotel gebaut wurde, standen hier schwere, hochlehnige Stühle mit grünem Bezug, Pseudobarock. Jeder dieser Stühle erschien mir aus irgendeinem Grund wie ein kleiner Dinosaurier. Dann verschwanden die Dinosaurier irgendwohin, und an ihrer Stelle erschienen ihre Antipoden – unseriöse, geschwungene Möbel mit geflochtenen, verschiedenfarbigen Lehnen. Der Name des Salons jedoch blieb.
Neumann sitzt wirklich an einem Tisch und wartet auf uns. Sowie er uns erblickt, steht er mit einem Ruck auf.
Lily Alert ergreift die Initiative: „Ich habe mit Herrn Dr. Bouché gesprochen, und er ist einverstanden, deine Erklärung entgegenzunehmen, Alfred.“
Neumann nickt. Er wirkt wie ein Sekundant bei einem Duell.
„Ich bedauere den gestrigen Zwischenfall, Herr Bouché. Ich war ziemlich nervös, wegen rein persönlicher Unannehmlichkeiten, und hoffe, Sie werden mein Verhalten nicht ungünstig auslegen.“
Für mich sind diese Förmlichkeiten ein bisschen ermüdend, aber ich spiele würdevoll mit und gebe ihm die Hand.
„Betrachten Sie alles als vergessen, Herr Neumann.“
Wir schütteln uns die Hände. Das Duell ist beendet. Ein winziges Schweigen tritt ein, das wiederum Lily Alert unterbricht:
„Sie haben vielleicht noch nicht gefrühstückt, Dr. Bouché? Bitte, Sie werden uns das doch nicht abschlagen? So können wir uns am besten unterhalten. Oder möchten Sie vielleicht lieber hinausgehen?“
„Nein, nein, warum!“, widerspreche ich. „Ich habe ohnehin keine besonderen Fragen. Es ist mehr eine Formalität.“
Wir setzen uns. Neumann kommandiert in der Manier eines Herrschers die Kellner herum, ich lächle flau und schicke mich an, das Spiel „der gute Inspecteur“ zu spielen. Offenbar hat Neumann gestern bei dem Streit mit mir einen Fehler gemacht. Das hat er hinterher gemerkt, oder Lily Alert hat es ihm klargemacht.
Was hat er falsch gemacht, dass er jetzt eine Aussöhnung braucht? Oder will er einfach keinen Konflikt mit mir? Mit diesen Entschuldigungen und Einladungen verfolgt er einen Zweck. Welchen? Von Zeit zu Zeit begegne ich seinen Augen. Völlig farblos, wie die einer Wasserschlange. Ein seltsames Paar. Was sind diese beiden für Verlobte und wie haben sie sich gefunden?
Ich studiere sie, spüre aber, dass auch ich studiert werde. Lily Alert beobachtet verliebt die Fürstenmanieren ihres Verlobten, ab und zu streift mich ein besorgter Blick. Wenn uns ein Außenstehender zusieht, wer weiß, was er bei so viel Lächeln denken mag.
Wir frühstücken und wechseln dabei belanglose Worte über die bevorstehenden Hundstage, darüber, dass die Nächte trotzdem kühl sind und in Österreich, wohin Ingenieur Neumann zurückkehrt, das Klima viel rauer ist.
Am Ende, als sämtliche klimatischen Fragen erörtert sind, verkündet Lily Alert: „Dr. Bouché, Sie wollten ein paar Fragen stellen. Ich weiß nicht, ob hier der geeignete Ort ...“
„Machen Sie sich keine Sorgen, es sind ganz gewöhnliche Dinge.“ Ich nehme Delacroix’s Foto aus der Brieftasche und gebe es Neumann.
Er betrachtet den seriösen Delacroix, dreht das Foto zum Licht, dann sagt er zögernd: „Er hat etwas Bekanntes ... ist das der ...“
„Ja, der Tote.“
Neumann hebt den Blick nicht vom Foto. Er beherrscht sich großartig, aber mein sechster Sinn sagt mir, dass ich ins Schwarze getroffen habe.
Ich höre die erstaunte Stimme der Lily Alert: „Aber so viel ich anfangs verstanden habe ...“ Und sie hält inne. Ich sehe sie an. In ihren länglichen Augen steht diesmal echtes Erstaunen. Und noch etwas, vielleicht – Angst.
„Ja“, bestätige ich. „Herr Delacroix ist gestorben. Vergiftung mit Morphin. Sie haben ihn nicht zufällig gesehen?“ Ich spiele meine Trümpfe einen nach dem anderen gegen Lily Alert aus, lasse aber Neumann nicht aus den Augen.
Bei den Worten „Vergiftung durch Morphin“ blickt er auf.
„Ich? Nein! Bestimmt nicht!“, wehrt Lily Alert ab.
„Habe ich Sie richtig verstanden?“, mischt sich Neumann ein und legt das Foto auf den Tisch.
„Völlig. Die Vergiftung ist eingetreten, nachdem Herr Delacroix in sein Zimmer zurückgekehrt ist. Sie waren zu dieser Zeit wahrscheinlich in Ihrem Zimmer.“
Neumann hebt die Schultern. Die Falle ist zu simpel für ihn.
„Ich weiß ja nicht, wann der Herr gestorben ist. Wir haben unten zu Abend gegessen, dann habe ich Frau Alert nach Hause gebracht und bin
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