Kobra
aus?“
An das Haus kann sich der Taxifahrer nicht gut erinnern, aber er beschreibt die Straße, eine kleine Gasse oberhalb des englisch-evangelischen Batisten-Zentrums. Ich blicke auf Sophie. Die nickt bestätigend. Es stimmt.
„Die beiden haben unten gewartet“, erklärt der Taxifahrer.
„Die beiden?“
„Aber ja. Ein Ausländer und eine Frau. Sie war Französin.“
„Beschreiben Sie mir die zwei.“
Der Taxifahrer beschreibt die Alert. Schlank, elegant. Und Neumann mit seiner unangenehmen Überheblichkeit. Die ganze Welt gehört ihm, und die Menschen zerfallen in Herren und Diener. Er gehört selbstverständlich zu den Herren.
„Er hat mir gleich nicht gefallen, schon wie ich ihn gesehen habe“, sagt der Taxifahrer. „Ich kenne diese Sorte. Weil sie Geld haben, glauben sie ...“
Die Gefühle vom Taxifahrer decken sich ungefähr mit meinen, aber jetzt geht es nicht um Gefühl, sondern ums Nachrechnen von Minuten.
„Was geschah danach?“
„Sie stiegen ein, und sie hat gesagt, ich soll losfahren.“
„Wohin?“
„Irgendwohin, wo man Paris von oben betrachten kann.“
Das ist neu und reichlich seltsam. Warum hat mir Lily Alert nichts von dieser mitternächtlichen Spazierfahrt gesagt?
„Ja, und wohin sind sie gefahren?“
„Sie wollte auf den Eiffelturm, aber dort ist eine Baustelle nach der anderen.“
„Was haben Sie gemacht?“
„Ich hab sie zum Fernsehturm gefahren. Sie sind ausgestiegen, haben sich Paris angesehen, ja, das war’s.“
„Von dort aus?“
„Sie standen beim Wagen. Haben was miteinander gesprochen, wohl auf Deutsch.“
„Wie lange haben sie sich dort aufgehalten?“
„Ungefähr zehn Minuten. Sagen wir fünfzehn, damit ich Ihnen nichts Falsches erzähle.“
„Und danach sind sie in die Stadt zurück?“
„Aber ja. Habe die Frau wieder an dieselbe Adresse gebracht und anschließend ihn zum Hotel.“
„Um wie viel Uhr?“
„Für die Frau sagen wir noch mal fünf Minuten und für ihn fünf, alles in allem zehn. In Paris ist nachts weniger Verkehr, da ist es nicht schwer.“
Ich rechne nach, und die Rechnung geht auf. Keine Minute fehlt bei Herrn Neumann. Ein hundertprozentiges, unerschütterliches Alibi. Und dass ihn das unwiderstehliche Verlangen anwandelt, Paris von oben zu betrachten, das ist seine Sache. Auch das Telefongespräch, das er gestern mit Wien geführt hat und von dem zu wissen zu meinen Pflichten gehört, ist seine Sache. Aber weder das eine noch das andere ändert die Lage auch nur so viel. Neumann hat nicht in der Wohnung der Fenner in der Allée le Gramat 4 sein können.
„Ist Ihnen nicht etwas aufgefallen? Etwas außer dieser Hin- und Rückfahrt? Selbst wenn es eine Belanglosigkeit ist?“
Der Taxifahrer hebt die Schultern. „Was soll ich sagen ... als ich ihm zum Hotel brachte, war mir, als sehe er sich um. Ich hab’s im Rückspiegel bemerkt.“
„Wie hat er sich umgesehen?“
„Nun so, durch die hintere Scheibe. Tat, als wäre nichts, aber ich kenne die Sorte.“
„Nach hinten, sagen Sie?“
„Ja, als ob uns jemand folgte. Aber da war niemand. Ich will Ihnen sagen, der Mann kam mir nicht geheuer vor.“
Mir auch nicht, aber mein persönlicher Eindruck von Herrn Neumann ist eine Sache für sich. Ich arbeite nicht mit persönlichen Eindrücken, sondern mit Fakten. Fürs Erste sind die Fakten auf seiner Seite. Ein felsenfestes Alibi. Das Einzige, was ich herausbekommen habe, ist, dass Neumann sich vor etwas oder vor jemandem gefürchtet hat.
Ich entlasse den Taxifahrer.
Sophie geht ihren Aufträgen nach, ich laufe im Zimmer hin und her. Ich wandere die Diagonalen entlang, sehe aus dem Fenster. Unten auf dem Trottoir hüpfen Spatzen herum und balgen sich, von Zeit zu Zeit kommt eine Taube geflogen, schreitet schwerfällig daher und blickt aus runden, roten Augen vorwurfsvoll auf die unseriösen Beschäftigungen der Spatzen. Ich schreite erneut die Diagonalen des Büros ab, verharre, schiebe die Akten auf dem Schreibtisch hin und her, öffne sinnlos den in die Wand eingelassenen kleinen Kleiderschrank. Drinnen hängt mein Trenchcoat. Auch ein kleines Waschbecken mit einem sauberen Handtuch ist da. Der Spiegel darüber hängt ein bisschen schief, das hat mich schon immer geärgert. Ich mache den Schrank zu, davor jedoch sehe ich mein Bild im Spiegel. Ich will mir nicht so recht gefallen, hauptsächlich die Augen. Sie sind zu müde für das dienstlich glatt rasierte
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