Kobra
seiner Handschrift und der des von Klebestreifen zusammengehaltenen Briefes, den ich soeben übergeben habe. Dieser Brief ist Zeile für Zeile, Wort für Wort fotografiert worden. Da ist die Neigung der Buchstaben studiert worden, die Art, wie sie geschrieben sind, ihre Verbindung, jeder Strich und jedes Komma.
Ich muss wissen, ob der Brief von dem Mann ist, der soeben das Protokoll unterschrieben hat und der Antonio Delacroix heißt.
Claude Seguin wartet bereits auf mich. Ich sehe ihn im Besucherzimmer, bevor er zu mir gebracht wird. Er ist zwischen fünfunddreißig und vierzig, hat ein breites Gesicht, dichte, schwarze Brauen, einen quadratischen Kiefer. Alles an ihm ist massiv, solide. Er gehört zu den Leuten, die auf den ersten Blick gemischte Gefühle hervorrufen: Sicherheit, wenn man mit ihnen dienstlich zu tun hat, und leichte Abneigung, wenn man mit ihnen privat etwas abmachen muss. Ein Mann, wenn der sagt, etwas gehört ihm, dann weiß man, es gehört ihm.
Nach ein, zwei Minuten kommt er herein. Wir machen uns bekannt. Er setzt sich selbstsicher.
„Ich nehme an, Sie wissen bereits, weshalb wir Sie hergebeten haben?“, beginne ich.
„Nein, das weiß ich nicht.“
„Es hängt mit Ihrer Bekannten, Amandine Fenner, zusammen.“
Ich sage es und verstumme.
Er schweigt ebenfalls, dann stößt er hervor: „Wenn Sie sich mit den Auslassungen eines Trunkenboldes befassen ... statt mich hierher zu zitieren, hätten Sie ihn vorladen sollen.“
Ganz klar – er weiß nichts.
„Es gibt keine Auslassungen“, versichere ich ihm. „Und uns ist jetzt gar nicht nach Auslassungen zumute.“
Er gehört nicht zu den Gesprächigsten. Er schweigt und sitzt weiterhin selbstsicher auf dem Stuhl.
„Ich möchte wissen, wann Sie Amandine Fenner zum letzten Mal gesehen haben.“
„Warum? Was und wen berührt das?“
Eine begründete Frage. Es wird Zeit, dass wir Klarheit schaffen.
„Heute Morgen, Herr Seguin, wurde Amandine Fenner ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden.“
Seguin reißt die Lider auf. Dann starrt er mich bestürzt an – er reagiert ein bisschen langsam – und sagt dumpf: „Das ist nicht wahr!“
„Hören Sie“, sage ich, „spielen Sie bloß kein Theater, das steht mir heute schon bis hier! Ich wiederhole: Amandine Fenner wurde ermordet in ihrer Wohnung gefunden. Deshalb habe ich Sie herbestellt.“
„Mein Gott!“, stammelt Seguin heiser. „Wie konnte er!
Ich ...“
Ihn zu fragen, an wen er denkt, erübrigt sich.
Er ist erschüttert, bewahrt aber Haltung. In dem blass gewordenen Gesicht heben sich die dichten Brauen, das dunkle Haar, der quadratische Kiefer noch stärker ab. Seine Finger öffnen und schließen sich, als packen sie jemanden.
Ich warte, dass die erste Reaktion abklingt, und erkläre geduldig, dass noch niemand sagen kann, wer das getan hat, dass wir ihn, Seguin, eben im Zusammenhang mit den Ermittlungen herbestellt haben und von ihm erwarten, dass er uns hilft. Ich wiederhole meine Frage, wann er die Fenner zum letzten Mal gesehen hat.
„Gestern. Wir haben zusammen zu Mittag gegessen. Mein Gott!“
„Erzählen Sie.“
„Da gibt es nicht zu erzählen. Ich habe sie angerufen, und wir haben uns zum Mittagessen verabredet ... Sie kam, wir sind zum Chinesen gegangen und haben zu Mittag gegessen ...“
„Wann haben Sie sich getrennt?“
„Ich habe sie zum Büro begleitet, es muss gegen halb zwei gewesen sein.“
„Und Sie?“
„Ich bin wieder zur Arbeit gegangen.“
Ich frage ihn nicht, wo er arbeitet; das weiß ich schon. Er ist Wirtschaftswissenschaftler, in verantwortlicher Stellung bei Sociéte Générale. Verschlossen, bescheiden, nicht viele Freunde, seit ein paar Jahren Witwer mit einem Kind, einem kleinen Mädchen. Ein seriöser Mensch, man hat Vertrauen zu ihm.
„Und alles war wie gewöhnlich?“
„Ja ... das heißt ...“
„Das heißt nein, nicht wahr? Woran denken Sie?“
„Sie war mächtig zerstreut. Ich habe sie sogar gefragt, warum sie so ... so sonderbar sei. Sie hat nicht geantwortet.“
„Und nur das?“
„Nein. Wir verabredeten, abends auszugehen. Sie war einverstanden, später hat sie aber aus dem Büro angerufen, dass sie nicht kommen können werde.“
„Hat sie Ihnen irgendwelche Erklärungen gegeben? Das hätte sich doch immerhin gehört.“
„Was soll ich sagen, sie ist ein Mensch, der seine Schritte nicht gern erklärt, eigenwillig. Sie könne abends nicht
Weitere Kostenlose Bücher