Kobra
ausgehen, es sei etwas dazwischengekommen.“
Alles kommt nun auf dieses „Etwas“ an.
Ich habe keine Möglichkeit, es herauszukriegen – das haben nur die Fenner gewusst und der, der auf sie geschossen hat.
„Gegen wie viel Uhr hat sie Sie angerufen?“
„Kurz vor Arbeitsschluss. Also gegen halb fünf. Sagen Sie ... ist sie wirklich tot?“, fragt er in der Hoffnung, ich habe nur auf den Busch klopfen wollen.
Ich nicke wortlos. Seguins Finger öffnen und schließen sich noch immer.
„Helfen Sie uns, von Ihnen hängt eine Menge ab!“, sage ich. „Erinnern Sie sich an alles, an jede Kleinigkeit, überlegen Sie, wer mit diesem Unglück in Verbindung stehen könnte? Wer?“
„Ich weiß nicht, nur, das ist auch sonst schon vorgekommen, mehr aus einer Laune heraus, aber diesmal kam es mir vor, als hätte sie wirklich einen Grund gehabt. Ich habe sie selten so sprechen hören. Und als Sie mir sagten ...“
„Was?“
„Zuerst habe ich an diesen Versager gedacht, ihren Mann, aber der war es nicht.“
„Sie hatte Unannehmlichkeiten mit ihm.“
„Das stimmt, bloß die Skandale ... aber er kann es nicht gewesen sein!“
„Weshalb meinen Sie das?“
„Er ist ängstlich, kann ihr nichts zuleide tun. Es stimmt, sie war wütend, hat sich geärgert, aber nicht vor ihm gefürchtet. Er wollte immer Geld von ihr, er verfolgte sie, damit sie ihm ein paar France gab, aber danach gab er Ruhe, bis er sie ausgegeben hatte ...“
„Weshalb glauben Sie, hat sie gestern Abend abgesagt?“
„Ich weiß nicht“, antwortet er mit einem Seufzer. „Amandine lebte ihr eigenes Leben, und das hat mich sehr beeindruckt. Sie teilte sich nicht mit. Wir sitzen da, essen zu Abend, unterhalten uns, alles ist gut ... und auf einmal verstummt sie, wird ganz sonderbar. Danach geht sie und sagt kein Wort, wie eine Fremde.“
Ich kann mir vorstellen, wie unangenehm das alles war.
„Welche Interessen hatte sie? Hatte sie irgendwelche Zukunftspläne? Sprach sie nicht wenigstens mit Ihnen darüber?“
Er verstummt. Ich sehe, dass er sich anschickt, etwas zu sagen, das nicht ganz wahr sein wird.
„Sie ist tot“, sage ich. „Seien Sie lieber ehrlich. Für sie hat nichts mehr Bedeutung.“
Sein Gesicht verzieht sich schmerzlich. Ich sitze da und warte geduldig. Es gibt keinen Grund, ihn zu drängen.
Er starrt zum Fenster und stößt dumpf hervor: „Ich kann es nicht glauben ... gestern haben wir uns gesehen! Sie wollte leben, viel mit mir ins Ausland reisen! Was ist daran schlecht?“
„Nichts. Fassen Sie sich. Ich habe noch eine Frage an Sie, Herr Seguin.“
„Ja?“
„Was wissen Sie über die Firma Lombardia in Mailand?“
Er runzelt die Brauen. Dann sagt er: „Ich habe von ihr gehört. Aber Genaueres ...“
„Sie arbeiten bei Chinimport, sind ein paar Mal dienstlich in Italien gewesen. Hatten Sie da keinen Kontakt mit Leuten von der Firma?“
„Warum? Was hat das mit Amandine ...?“
„Bitte.“
„Nein. Hatte ich nicht. Da bin ich sicher. Nur der Name ist mir bekannt. Kann sein, dass ich mal irgendeinen Geschäftsbrief unterschrieben habe, aber weiter nichts.“
„Gut, ich danke Ihnen. Weitere Fragen habe ich nicht.“
Er steht schwerfällig auf, nickt und geht hinaus. Sein Gesicht ist auf einmal gealtert, und jetzt bemerke ich erst, dass in seinem Haar silberne Fäden sind. Er ist nicht so jung, wie er mir zunächst erschien.
Irgendwo schlägt eine Uhr dreimal. Auch dieser Tag hat den Höhepunkt überschritten. Erst jetzt, als ich die Uhr höre, fällt mir ein, dass ich noch nicht zu Mittag gegessen habe. Um drei Uhr kann ich nicht mit der sprichwörtlichen Liebenswürdigkeit der Pariser Kellner rechnen, zumindest das ist klar.
Ich fasse ins Schubfach und hole die Waffeln für Leute mit Magengeschwüren heraus. Ich öffne die Schachtel und versuche, ein paar trockene Kalorien mit dem Gedanken hinunterzuwürgen, dass Essen notwendig ist. So ist das, ich habe schon lange festgestellt, dass zwischen dem Nützlichen und dem Angenehmen ein unversöhnlicher Widerspruch besteht.
Das Telefon klingelt, genau das Klingeln, das ich erwarte. Der Grafologe wird gleich das Gutachten schicken, aber man kann mir das Ergebnis auch am Telefon sagen. Es besteht keinerlei Zweifel – die Handschrift von Antonio Delacroix auf der Liste der Sachen deckt sich mit der Handschrift in dem Brief, den ich ihm gegeben habe. Es handelt sich um ein und dieselbe
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