Koch zum Frühstück (German Edition)
sind die Kulisse. Das Reh steht im Scheinwerferlicht, starrt mich an und wartet ganz offensichtlich darauf, dass der Vorhang fällt…
Ich bin zu schnell. Viel zu schnell. Ich kann nicht mehr bremsen. Das schaffe ich nicht. Wie soll man noch einmal in so einer Situation reagieren?
Lenkrad festhalten und geradeaus fahren. Immer geradeaus fahren. Ja, so lernt man das. Halt die Spur! Fahr geradeaus – es ist der einzig richtige Weg… die einzig richtige Entscheidung…
Immer geradeaus, Abel!
Das Reh starrt mich an. In meinem Kopf rauscht es. Mir ist schwindelig. Dann reiße ich das Lenkrad herum… nach links… weg vom Reh… weg von der Straße… in den Wald… in die Dunkelheit…
Ist das nicht einer dieser Momente, in denen man sich an die bedeutsamen Augenblicke im Leben erinnert? Der Moment, in dem man seine Fehler bereut? Der Moment, in dem man an die Menschen denkt, die man liebt…
Liebe…
Ich sehe ein Gesicht vor mir.
Und Damien Rice singt immer noch:
«…is that alright... is that alright... is that alright with you? No..”
Der Mentor
Dienstag, 24.07.1990
Ich schaue die geschlossene Tür an. Blau, kalt, hart und sehr schwer. Wenn man sie öffnen will muss man kräftig an der schwarzen Klinke ziehen. Ganz kräftig… am besten mit beiden Händen… Die Klinke ist schon ziemlich kaputt.
Ich sitze auf einer Holzbank. Meine Beine baumeln hin und her… und hin und her…
Wenn ich mich ein bisschen strecke, mich lang mache, dann berühren meine Zehenspitzen den gelben Boden. Ich probiere es aus. Ja, meine Turnschuhe streifen über die Kacheln. Ich grinse. Ich bin schon groß. Ziemlich groß. Fast der Größte in meiner Klasse. Wir haben es mal nachgemessen. Mit einem Maßband.
David ist der Kleinste. Er ist ein halber Wurm. Wenn ich ihn Zwerg nenne, wird er böse und tritt mich. Aber das macht nichts. Seine Tritte tun nicht sehr weh – wegen den kleinen Füßen…
Ich wackle wieder mit den Beinen. Die blaue Tür ist immer noch zu. Die Schnürsenkel von meinem linken Schuh sind offen. Die beiden Bändel flattern durch die Luft, wenn ich mit dem Fuß hin und her schaukle.
Ich halte meinen Turnbeutel fest umklammert und seufze laut. Warten ist doof. Warten mag ich nicht. Das ist so langweilig. Will nicht mehr warten.
Hier gibt es nur ein kleines Fenster. Es ist schmal, man kann fast nichts erkennen. Nur ein winziges Ministückchen vom Himmel. Die Sonne scheint.
Ich seufze wieder.
Ich will jetzt draußen sein und eine Runde mit Michas neuem Fahrrad fahren. Es ist silbern und funkelt im Licht. Er hat es uns vorhin gezeigt. Er hat's zum Geburtstag bekommen. Und nur ich durfte die Gangschaltung anfassen. Ich gucke nach unten, bis mein Kinn auf der Brust liegt. Micha, David und die anderen sind sicher schon weg. Ob sie einen Umweg über den Spielplatz machen? Vielleicht machen sie wieder Wettschaukeln. Wer am wildesten schaukelt und am weitesten springen kann, gewinnt.
Bisher hat keiner meinen Rekord gebrochen… bin bis zu den Mülleimern gesprungen. Micha sagt, das traut sich sonst keiner. David sagt, es sieht immer so aus, als ob ich fliegen könnte…
Ich will nicht mehr warten. Warten ist dumm. Ich rutsche auf der Bank hin und her.
Da sind Buchstaben und Zeichen im Holz. Reingeritzt. Mal sind sie ganz tief und dick, mal nur dünne Kratzer.
Ich berühre die Striche mit dem Zeigefinger.
»J.E.S.S.I.K.A«, lese ich jeden einzelnen Buchstaben. »Jessika.« Leise murmle ich den Namen.
Buchstaben erkennen ist nicht schwer. Ich kann fast alle Wörter richtig lesen. Auch ganz neue…
Gleich beim ersten Mal… Ich bin gut im Lesen.
»Jessika…«, lese ich noch einmal. Und darunter steht: »… S.C.H.L.A.M.P.E…«
Ich probiere das Wort leise aus. »Schlampe… Schlampe…«
Hm… ich bin mir nicht ganz sicher, was das heißt. Naja, ist ja auch egal…
Ich schaue wieder die blaue Tür an. Wie lange soll ich noch warten? Er hat gesagt, er kommt gleich. Neben dem Fenster hängt eine runde Uhr. Der große Zeiger ist für die Minuten, der Kleine für die Stunden. Das haben wir gerade erst gelernt. David verwechselt es immer.
»Minuten sind doch kleiner als Stunden, oder?«, sagte er. »Warum zeigt der kleine dann nicht die Minuten an? Das wäre besser… das könnte man sich merken…«
Frau Hupferl konnte das auch nicht erklären.
Ich baumle wieder mit den Beinen. Der Turnbeutel rutscht mir vom Schoß. Ich hebe ihn auf.
Auf dem Stoff ist das Zeichen vom FC Bayern
Weitere Kostenlose Bücher