Kochlowsky 2: Und dennoch war das Leben schön
Fürstin zu Schaumburg-Lippe: ein verschlossenes Kuvert, erst zu öffnen zum 21. Geburtstag von Wanda, also am 21. November 1910. Auf dem Umschlag stand in der steilen, aber doch zierlichen Schrift der Fürstin der Satz: »Gott segne Dich, mein Nichtchen, und alle Deine Kinder. Wir wissen, sein Auge wacht über Dich.« Für Leo Kochlowsky war kein Gruß dabei, was ihm auch gleichgültig war. Nur eins wurmte ihn: Sophies Eltern hatten, wie bei der Hochzeit, auch zur Taufe abgesagt. Der Vater habe Gicht und könne keine langen Fahrten mehr auf sich nehmen, und Mama könne den Haushalt nicht so lange allein lassen. Sie schickten für Wanda ein Kleidchen aus handgesponnenem Leinen, das sie, wenn sie ein Jahr alt war, tragen konnte, und eine große Puppe, die Wanda voraussichtlich erst im dritten Lebensjahr überragen würde.
Es war das einzige Mal in diesen Tagen, daß Sophie für ein paar Minuten irgendwo im Haus verschwand, um ungesehen und still zu weinen.
Nachdem die Taufe vorbei war, bei der Wanda Reichert vor Ergriffenheit so laut schluchzte, daß den Taufspruch nur noch wenige in der ersten Bankreihe verstanden, fuhren die Kremser zum Hotel ›Stadt Leipzig‹, und der fröhliche Teil begann. Graf von Douglas war erschienen, begleitet von seinem steifen Emil Luther, der schnufende Buchhalter Plumps mit Frau und sieben Kindern, die beiden Brennmeister der Ziegelei, Pfarrer Maltitz mit Haushälterin Johanna Klaffen, der Hausarzt der Kochlowskys, ein Dr. Brenneis, die Hebamme Ludwiga Solle, der Revieroberförster Rechmann mit seiner attraktiven Frau Blandine, die aus dem Lothringischen stammte, der Apotheker, einige andere Bekannte und natürlich Leopold Langenbach. Er benahm sich, als sei er der Vater des Kindes, rückte Sophie den Stuhl zurecht, sah immer wieder nach der kleinen Wanda in ihrem schmucken Körbchen, schaukelte sie, wenn sie zu quäken anfing, und Kochlowsky mußte an sich halten und sich innerlich beruhigen, denn es drängte ihn gewaltig, Langenbach in den Hintern zu treten. Das werden wir bald ändern, dachte er mit finsterer Miene und sah bei Tisch gar nicht aus wie ein glücklicher, stolzer Vater. Nach Weihnachten, im neuen Jahr … mein lieber Langenbach, dann fliegst du im hohen Bogen aus meinem Haus. Er spürte, wie die Eifersucht an ihm nagte, und das erregte ihn noch mehr.
Das Festessen stocherte er unlustig in sich hinein, ließ Eugens poetische Tischrede über sich ergehen, die in dem Vers gipfelte: »Es strahlt der Himmel golden wie im Werden – Gott grüßt Dich, Wanda, hier auf Erden!« Dabei schneite es draußen aus einem bleigrauen Himmel dicke Flocken. Nichtsdestotrotz war alles gerührt und klatschte begeistert Beifall.
Was dann folgte, beschäftigte die Wurzener noch lange.
Der ›Dramatische Verein‹ von Pleß – fünf Paare unter Landauers Regie – führte die ›Lebenden Bilder‹ vor. In hautfarbenen engen Trikots! Keine Körperform blieb verborgen, die Gruppierungen auf der Bühne, erstarrt zur Unbeweglichkeit, stellten zwar bekannte Historie dar – vom Sündenfall im Paradies bis zur alles krönenden Hymne des Genius, wo die fünf fleischfarbenen Damen einen kräftig gebauten Mann goldene Lorbeerkränze hinhielten. Obwohl alles verhüllt war, wurde neben anderen Gästen die brave Johanna Klaffen puterrot, der Schuldirektor bekam ein nervöses Augenzucken, und die Frau des Apothekers flüsterte: »Skandalös! Nackt! Das Trikot ist doch nur ein Vorwand! Man sieht ja – alles! Welch eine Schweinerei …«
Nach dem letzten ›Lebenden Bild‹ klatschten vor allem die Plesser begeistert, die Wurzener hielten sich zurück. »Das macht uns so schnell keiner nach«, trompetete Eugen Kochlowsky, und man glaubte es ihm vorbehaltlos. Sie sind alle gleich, die Kochlowskys, dachte man. Der eine brüllt wie ein Stier, der andere verbreitet Ferkeleien. Die arme, unschuldige, hübsche Sophie, wie kann sie nur an einer solchen Familie hängenbleiben …
Nach dem ersten Tanz bröckelte die Festgesellschaft auseinander. Die aufrechten Wurzener Bürger verabschiedeten sich schnell. Als letzter ging Pfarrer Maltitz. Er wußte genau, welchen Gesprächsstoff man in den nächsten Tagen in der Stadt haben würde. Graf Douglas war sofort nach Beendigung der ›Lebenden Bilder‹ gegangen, aber nicht, weil er über den Verfall der Moral entsetzt war, sondern weil er am frühen Morgen auf Sauhatz gehen wollte. In den Wäldern um Amalienburg gab es kapitale Wildschweine, besonders auf einen
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