Köhler, Manfred
Sarah und Ellen waren nirgends zu entdecken. „Sie hängt so am Leben und lässt sich nichts anmerken.“
„Wieso, was denn anmerken?“
„Ach, wissen Sie denn nicht, dass sie Krebs hat? Sie hat ja gar keine Haare mehr, das arme Ding, seitdem trägt sie diesen ulkigen Hut. Im Mai will sie heiraten und hofft, dass dann wieder Haare nachgewachsen sind. Sie darf nämlich demnächst die Chemikalien absetzen. Die Ärzte meinen wohl, sie hätte so oder so nur noch ein paar Monate.“
Ein Samstagvormittag in einem regnerischen Monat Dezember ist es gewesen, so sollte Carmen Weiske noch Jahre später mit feuchten Augen erzählen, als mir der Herr in seiner ganzen Allmacht offenbar geworden ist, seine Güte kann wirklich Wunder wirken. Dabei sind die Herzen so vieler Menschen so kalt und verschlossen gewesen gerade an diesem Morgen! Ach, wie oft waren meinem Glaubensbruder und mir und damit dem Herrn selbst auf unserem Weg des Lichts die Türen vor unseren Angesichtern zugeschlagen worden! Auch bei diesem einen Mann, der da in einem Vorort der Stadt Wallfeld in einem Haus mit grüngrauen Eternitplatten lebte, hatte ich zuerst wenig Hoffnung auf Rettung seiner Seele. Er wirkte so verstört, er wollte uns abwimmeln, nein, das war kein gottesfürchtiger Mensch bis zu diesem Tage, seine Züge zeigten Verbitterung und Unglauben. Doch das erste Wunder geschah, er bat uns herein, wir konnten ihm die Botschaft der Erleuchtung überbringen, mein Glaubensbruder predigte mit der göttlichen Logik des Herrn, und nun floss auch mir das Herz über, auch ich war begeistert und neu berührt, und da konnte selbst dieser arme, ungläubige Mann nicht länger sein Widerstreben aufrecht erhalten, er öffnete sich, ja, wir sahen es deutlich, seine Gesichtszüge lösten sich, und dann geschah das Wunder, der Herr führte seine Hand in eine Spalte seines Sofas und ließ ihn eine weiß glitzernde Perle finden. Dieses Geschenk des Himmels änderte sein ganzes Wesen, es übte eine ungeheure Wirkung aus, und das zweite Wunder geschah, seine Gedanken kreisten jetzt um den Herrn, verklärt und entrückt empfing er die Frohe Botschaft, was für ein Glück, einen neuen Jünger gewonnen zu haben, endlich, wir ließen ihn mit dem Wort des Herrn allein, damit es wie ein Samenkorn in seinem Herzen aufgehe, damit aus der Perle ein Rosenkranz werde, und versprachen ihm, bald wieder zu kommen, um ihn zu einem der unsren zu machen.
Am Morgen nach der Hochzeitsmesse setzte sich Lothar Sahm gleich nach dem Frühstück in sein Arbeitszimmer, um an seiner Romanidee zu arbeiten. Sein binationales ausgewandertes Paar sollte in der neuen Heimat mit einem unerwarteten Konflikt konfrontiert werden: einer verführerischen Amerikanerin, die seiner männlichen Hauptfigur den Kopf verdrehen, und einem krebskranken Jüngling, der das Herz seiner weiblichen Hauptfigur berühren würde.
Es läutete an der Tür. Zwei wandernde Sektierer, ein noch recht junger Mann mit strengem Seitenscheitel und eine angegraute, altjüngferlich wirkende Frau, begrüßten ihn mit einem Bibelspruch. Er überwand seinen Impuls, die Tür mit einem „Nein, danke!“ wieder zu schließen und bat sie herein. Gut eine Stunde hockten die beiden stocksteif in seinem Wohnzimmer. Danach dachte er nicht mehr an seinen Roman. In eine neu geöffnete Datei schrieb er:
„Heute stand vor meiner Tür ein recht eigenwilliges Bekehrer-Pärchen. Erst wollte ich die beiden abwimmeln, aber dann kam mir die Idee, den Spieß einfach mal umzudrehen und sie ausfragen: nach den Umgangsformen in ihrer Sekte und auch nach Privatem, worauf sie sofort abblockten, auch ließen sie sich nichts zu trinken anbieten. Ich verspürte den Reiz, sie ein bisschen zu provozieren, um sie aus der Reserve zu locken. Er stellte sich vor als Diplom-Physiker, von ihr erfuhr ich gar nichts, eine wirklich dumme Nudel war das, die immer nur nickte, die Augenbrauen ermahnend hochzog und süßlich grinste, als stünde sie unter Drogen.
Seine angebliche wissenschaftliche Ausbildung kam mir gerade recht, ich schmiss ihm einfach mal einen Brocken hin und argumentierte: Unsere Sinnesorgane samt dem ganzen Apparat zur Verarbeitung aller Wahrnehmungen sind von der Evolution dazu herausgebildet worden, um in der Welt zu überleben, aber nicht um sie zu verstehen. Daher können religiöse Vorstellungen nicht zutreffen, egal aus welcher Religion, weil alles, was jenseits unserer Sinne liegt, uns bis auf ein paar technische und mathematische
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