Köhler, Manfred
richtig. Man habe vielmehr, weil einst im Wechselspiel von Ebbe und Flut die Straßen von Abwässern überflutet wurden, die Fahrbahnen erhöht gebaut, später die Bürgersteige angepasst, und erst dadurch seien die früheren Gehwege zu unterirdischen Gewölben geworden und die Wohnungen der Erdgeschosse zu Kellerräumen. Sie plauderte über Alt- und Neu-Seattle, er könne sie alles fragen, sie habe im letzten Sommer als Fremdenführerin in der unterirdischen Stadt gejobbt.
Ganz nebenbei erfuhr er, dass sie 23 war, zwar schon vor einigen Jahren die Schule abgeschlossen aber noch immer nicht entschieden hatte, ob und was sie studieren wollte, dass ihr der Umgang mit den Kleidern recht gut gefiel, aber bestimmt nicht auf Dauer, dass ihr liebster Sport das Wasserskifahren war – und dass ihr Freund Johnny hieß und Medizin studierte.
Diese kleine private Information holte Lothar Sahm schlagartig aus Seattle zurück nach Wallfeld, er schaute auf die Uhr.
„Oje, schon fast 16.30 Uhr! I’m very sorry, I have to go.”
Ellen war noch immer nicht zurück. Offenbar war es ihre Art, „nur mal ganz kurz“ zu verschwinden und nicht mehr aufzutauchen, schon bei der Messe war ihm aufgefallen, dass sie irgendwann einfach weg gewesen war, grußlos.
Für diesen Tag jedenfalls war das Interview gelaufen. Rosa Guttler wollte Ellen dabei haben und bat um einen neuen Termin. Bis dahin wollte sie ihrer Fotografin gründlich den Kopf waschen.
„Schaffst du das Ding noch bis morgen?“, fragte Walter Wonschack, als Lothar Sahm sich bei ihm zurückmeldete.
„Wieso morgen, ich denke, das soll eine Beilage für Januar werden?“
„Schon, aber ich könnte noch einen Dreispalter für Seite 2 gebrauchen. Schreib dazu, dass wir in der bald folgenden Hochzeits-Beilage dann ausführlich berichten.“
Lothar Sahm kratzte sich an der Nase.
„Also, das ist so, die Frau Guttler war heute noch nicht so weit, die rechnet ja erst im Januar damit.“
„Aber du warst doch auf der Messe und jetzt auch noch fast drei Stunden bei ihr im Laden, da wirst du doch einen Dreispalter zusammenbringen?!“
Für 99 Zeilen reichte es. Er schrieb über das, was ihm selbst bemerkenswert erschienen war: die große Resonanz, die perfekte Organisation, die flotten Sprüche des Moderators...
„Da steht ja gar nichts über die neuesten Modetrends“, meckerte Walter. „Und wo sind Bild und Bildtext?“
„Ach, ein Bild brauchst du auch? Tja, also, Bilder hat die Frau Guttler machen lassen, ich müsste halt schnell welche holen, falls sie noch im Laden ist.“
„Aber du hast doch selbst auch fotografiert, du musst doch Bilder hier haben!“
„Nein, leider nicht.“
Walters Blick wechselte vom Fassungslosen ins Besorgte.
„Sag mal, ist irgendwas mit dir?“
Der Wortwechsel spielte sich bei der kleinen Redaktionskonferenz ab, einem letzten Treffen aller Kollegen, die an diesem Tag Dienst gehabt hatten. Bei dieser Konferenz klärte der Nachtdienstler, der für Notfälle noch bis zum Andruck in der Redaktion zu bleiben und die Seiten vor der Belichtung noch einmal Korrektur zu lesen hatte, letzte Fragen, bevor alle anderen sich in den Feierabend verabschiedeten.
An diesem Abend hatte Walter Nachtdienst. Der stand nun mit einem Hochzeitsmodenschau-Artikel ohne Foto da, was keine Katastrophe war, denn es gab genug Lückenfüller-Artikel, sogenannten Stehsatz, auf den er zurückgreifen konnte. Für Margot, Mandy und Uwe war das Thema daher nicht der Rede wert, sie hatten gar nicht richtig zugehört; Liane Czibull aber schaute Lothar Sahm durchdringend von der Seite an.
Am nächsten Morgen fand er ein an ihn gerichtetes Memo des Geschäftsführers. Seine Formulierungen ließen einen Strafappell ahnen: Es wurde ausdrücklich er nach oben zitiert – aber er sollte in Begleitung seiner Kollegen erscheinen.
Crähenberger fragte, kaum war die Mannschaft angetreten, in scharfem Ton, wo denn der Artikel über die Hochzeitsmesse bleibe. Im Lokalradio sei bereits am Samstag ausführlich berichtet worden, in der Rundschau aber sei nicht mal heute, am Dienstag, etwas darüber zu finden.
Das Lokalradio war Crähenbergers Lieblingsfeind, er hatte die Gründung vor zwei Jahrzehnten mit allen Mitteln verhindern wollen. War nun etwa die alte Stammkundin Rosa Guttler dabei, zum Radio überzulaufen? Und wer trug dafür die Schuld?
In seinem Groll brachte es Crähenberger fertig, seine beiden Redaktionsleiter gleichzeitig anzustarren, und dieses nach außen
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