Köhler, Manfred
gerichtete Schielen war in höchstem Maße irritierend, denn eigentlich sah er keinen richtig an, sondern zwischen ihnen hindurch, und so fühlten sich beide fest ins Visier genommen und zugleich geschnitten.
Walter Wonschack senkte den Blick und druckste herum, daher ergriff Lothar Sahm das Wort. Liane Czibull ließ ihn nicht aus den Augen, während er Rechenschaft darüber ablegte, wie die beiden Termine in Sachen Hochzeitsmesse verlaufen waren. Er war sich keiner Schuld bewusst. Was konnte er dafür, dass die Veranstalterin besonderen Wert auf die Auswahl der Bilder legte? Diente er den Interessen der Wallfelder Rundschau nicht gerade dadurch, dass er auf die Kundin einging?
Lothar Sahm wurde das Gefühl nicht los, dass auch dieses zweite, verschärfte Antanzen bei Crähenberger nicht auf dessen eigenem Mist gewachsen war. Eigentlich interessierte der sich sonst überhaupt nicht für redaktionelle Belange der Zeitung, sondern nur für geschäftliche und repräsentative. Auf Versäumnisse in der Berichterstattung wurde er meist nur aufmerksam, wenn einer seiner Golfpartner sie ihm steckte, die triumphierende Konkurrenz der Anzeigenblätter oder eben des Lokalradios. Nur: Diesmal konnte nicht Peter es gewesen sein, der ihn angeschwärzt hatte; und beim ersten Mal war, meinte er, die Czibull nicht dabei gewesen.
Noch an diesem Tag holte er sich die Fotos. Diesmal war eine Auswahl plötzlich ohne Ellens Anwesenheit möglich. Lothar Sahm hatte sich verabschiedet, war mit den Abzügen schon halb zur Tür draußen, als Rosa Guttler ihn unvermittelt und ausdrücklich im Namen ihrer Nichte fragte, ob er ihr, Sarah, nicht mal die Stadt zeigen wolle.
Natürlich wollte er, aber beim Gedanken an einen gewissen Medizinstudenten im fernen Seattle irgendwie auch wieder nicht, und so war er überzeugt, nur deshalb zuzusagen, weil sich eine Absage aus gesellschaftlichen Gründen verboten hätte.
Rosa Guttler rief nach hinten ins Lager, wann Sarah sich denn vorstelle, mal mit dem Herrn Sahm auszugehen, und erhielt aus dem Gewinkel des Bügelzimmers zurück die kaum vernehmbare Antwort:
„Maybe morgen in the Abend?“
Kapitel 3: Sympathie für verhasste Termine
Lothar Sahm wälzte über Nacht die 300 Seiten dicke „Heimatgeschichte der Stadt Wallfeld“ von Museumsdirektor a. D. Dr. Dr. Hans-Bernd Rosenholz und übersetzte maßgebliche Passagen ins Amerikanische. Einer, die mal Fremdenführerin in einer Weltstadt wie Seattle gewesen war, der konnte man nicht mit einer lauen Besichtigungsrunde ohne handfeste Fakten kommen.
Sarah aber, nun Touristin, zeigte wenig Interesse an Jahreszahlen, Pestilenzen und Belagerungen, nicht mal die große Feuersbrunst vom Juli 1734 ließ Interesse aufkommen für Wallfelds wechselvolle Vergangenheit. So wurde aus der mit Daten überfrachteten Fremdenführung schon nach fünf Minuten ein gemächliches Schlendern.
Gut zwei Stunden lang spazierten die beiden in artigem Abstand durch die Innenstadt und plauderten in einem Gemisch aus deutschen und amerikanischen Brocken über dies und jenes. Sarah fand, Wallfeld sei keine richtige deutsche Stadt, weil es kein einziges alpenländisches Haus mit Holzbalkon hier gebe und die Bürger eigentlich genauso gekleidet seien wie bei ihr zu Hause in Seattle. Dachte Sarah an Deutschland, so erfuhr der staunende Lothar Sahm, dann dachte sie an Sauerkraut – er liebte es, wie sie dieses Wort aussprach –, Oohmbadärää-Musik – da musste er zweimal hinhören –, an hohe Berge, Kühe, Trachten und eben Holzbalkone, und sie ließ sich von der Tatsache, dass Wallfeld diese Erwartungen zu 100 Prozent enttäuschte, nicht beirren. In Munich, das sie so bald wie möglich besichtigen wolle, sei es ganz sicher so, das habe sie auf Bildern gesehen. Lothar Sahm, obwohl noch nie in München gewesen, hatte da so seine Zweifel, bot ihr aber an, sie hinzufahren, am besten noch jetzt im Dezember zum Weihnachtsmarkt. Sie willigte begeistert ein.
„Oh, I love christmas!“
Dieses Bekenntnis veranlasste ihn, sie am übernächsten Tag zur Weihnachtsfeier des Turn- und Sportvereins TuS Wallfeld mitzunehmen, denn die galt – zumindest unter Vereinsmeiern – als eine der besinnlichsten weit und breit. Bevor er sie mitnehmen konnte, musste er allerdings dafür sorgen, selbst eingeladen zu sein. Er erschlich sich den Termin kurzerhand von einem freien Mitarbeiter, dem er im Tausch dafür den allseits beliebten Weihnachtsumtrunk beim Oberbürgermeister anbot, den er
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