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Köhler, Manfred

Köhler, Manfred

Titel: Köhler, Manfred Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irrtümlich sesshaft
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Schriftsteller-Karriere war schon so gut wie gemacht.
    Am Vormittag trieb er, den Sarburgerschen Besen in den Augenwinkeln, seinen Roman voran; nachmittags erledigte er erste Behördengänge in Zusammenhang mit der Kündigung. Spätnachmittags dann der schwere Besuch bei seinen Eltern. Sie guckten besorgt, aber äußerten Zuversicht. Die volle Wahrheit freilich lag ihnen nicht vor. Statt fest angestellter nun eben freiberuflicher Journalist, das klang für sie nach Berufswechsel, nicht aber nach dem Satz ins Ungewisse, den ihr in die Jahre gekommener Sprössling tatsächlich riskierte: Er hatte nicht vor, in irgendeiner Weise journalistisch tätig zu werden.
    Gestärkt durch diese erste Reaktion suchte er schließlich noch seine Großeltern auf, auch von ihnen hörte er, wider Erwarten, weder Ach und Weh noch Protest oder Vorwürfe. Er atmete auf über die gemessene Reaktion seiner Familie. Auch der bürokratische Wechsel in sein neues Dasein hatte sich als weniger zäh und aufwändig herausgestellt als er vermutet hatte. Abends dann – er saß über Pellkartoffeln mit Quark und tröstete sich mit dem Gedanken, dass derlei geschmacksarme Sparmenüs schließlich auch seiner Figur zugute kamen – wagten sich die Zweifel wieder aus ihrer Deckung hervor und verdarben ihm bis in den Schlaf hinein den Neuanfang. Ganz sicher würde er als Stadtstreicher in der Wallfelder Fußgängerzone enden! So lebendig wie zuvor das Bild des unüberwindlichen Flusses drängte sich ihm nun dieses auf: Liane Czibull und Andreas Crähenberger stolzierten Hand in Hand an seinem verknautschten Bettlerhut vorbei, ohne ihn, den früheren Mitarbeiter, eines Blickes zu würdigen. Statt eines Geldstückes warfen sie ihm ein angenagtes Brötchen in seinen Hut.
    Über die ersten zwei, drei Wochen hinweg lief Lothar Sahm Slalom durch Momente der Euphorie und solche tiefster Niedergeschlagenheit und lähmender Existenzangst. Aber sein Roman kam voran und wurde besser. Er fühlte sich als fleißiges Lieschen, das unermüdlich an seinem Schal weiterstrickte: An einem Tag legte er seine Arbeit nieder, um sie am nächsten Tag aufzunehmen und ohne sichtbare Unterbrechung fortzuführen, immer Masche für Masche – Zeile für Zeile. Wenn er nur so weitermachte und durchhielte, würde nach einigen Monaten etwas Großes und hoffentlich sogar Großartiges dabei herauskommen, etwas Beständigeres jedenfalls als seine vielen Seiten 2, die längst verbrannt, zerschnetzelt oder von Bio-Abfall durchweicht und verfault waren. Ein in sich fortlaufendes Muster würde sich fügen, dem man die täglichen Brüche nicht ansah, ein einzigartiges Werk, das nie entstanden sein würde ohne einen Lothar Sahm, der es gewagt hatte, sich seiner Bestimmung zu stellen.
    Obgleich ihm dieser Gedanke Mut machte und die Zweifel bald vertrieb, war Lothar Sahm besonnen genug, ein weiteres Standbein auszustrecken. War sein Tagwerk am Roman vollendet, griff er die vielen kleinen Ideenschnipsel auf, die von seiner Hauptarbeit abgefallen waren, und verarbeitete sie auf wenigen Seiten. Bis zu drei, vier und manchmal sogar fünf, sechs solcher kurzer, abgeschlossener Liebes-, Abenteuer- oder auch Horrorgeschichten brachte er pro Woche zu Papier, mit der Zeit wurde aus dem geregelten Ausstoß eine regelrechte Industrie. Allein die große Menge dieser Geschichten musste es doch wahrscheinlich machen, dass sich auch die eine oder andere objektiv gute Story darunter befand und dass eine der Illustrierten oder überregionalen Tageszeitungen, die er damit eindeckte, sich irgendwann darauf einließ, sie druckte und ihm ein Honorar dafür zahlte.
    Ob es nun der Stolz auf seinen Fleiß war, seinen Ideenreichtum und die Einzigartigkeit seiner Arbeit oder die Sparsamkeit und Kargheit der Lebensweise, die er sich angesichts seiner sich nicht länger erneuernden Ersparnisse auferlegte – Lothar Sahm erlebte dieses Weihnachten nicht, wie vor der Kündigung erwartet, als Ausgestoßener, der Glanz des Festes schien ihm nicht lockend aber unerreichbar durch die Ritzen seines verdunkelten Daseins, er hatte vielmehr das Gefühl, die wahre Hochstimmung werde allein ihm zuteil und die Festgemeinschaft draußen erfreue sich allenfalls an einer Ahnung davon. In all den Jahren davor, so meinte er jetzt, vielleicht sein ganzes Leben lang war wohl seine innere Uhr nachgegangen, er hatte Weihnachten oder andere freudige Anlässe nie ganz zusammenhängend und im Augenblick erlebt. Meist hatte die Gegenwart die

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