Köhler, Manfred
Vorfreude überholt, bevor die Freude hatte eintreten können. Man sah das Bevorstehende noch in weiter Ferne liegen, plagte sich mit Alltagssorgen, doch auf einmal war es heran, und ehe man es begriffen hatte und meist gerade, wenn man endlich in der Stimmung dafür war, lag es schon wieder zurück, und man beklagte es innerlich als versäumt.
In diesem Jahr aber genoss Lothar Sahm das warme Flackern der Kerzen seines Adventskranzes, und er öffnete sich dem Glanz seines kleinen Christbaumes in jedem Augenblick, ihm waren die Weihnachtsfeiertage nicht in betäubender Erschöpfung durchstöhnte Rekonvaleszenzzeit in der k.o.-Phase nach dem Vorweihnachtsstress, er begriff sie als besondere Zeit der Besinnlichkeit und Einkehr. Als er den Baum dann Mitte Januar abschmückte, war Weihnachten innerlich abgeschlossen, er hatte nichts aufzuholen an Stimmung wie er keiner weiteren Ruhe bedurfte.
Er hatte nun knapp 700 Seiten und damit, gemäß Plan, zwei Drittel seines Romans vollendet. Sein Vorhaben stand in vollem Saft. Er hatte etwas zu sagen mit seiner Geschichte, sprachlich war sie untadelig und aus einem Guss, und so würde es weitergehen, die Vollendung war nur noch eine Frage der Zeit. Derweil er sich noch an dieser Zuversicht erfreute, verlor seine Arbeit bereits an Schwung. Er spürte das in vielerlei Hinsicht. Es trieb ihn nicht mehr an seinen Schreibtisch, er hatte sich in die Pflicht zu nehmen; er saß dann oft genug da, starrte auf das alte Foto oder zum runden Fenster hinaus und verirrte sich in Gedanken, die mit seiner Geschichte nichts zu tun hatten; was er schrieb, letztlich, wollte ihm nicht mehr recht gefallen. Er verordnete sich dann Pausen, ging im Unterholz der Wallfelder Wälder Ideen sammeln, aber die fügten sich nicht in die Konstruktion, die er aus Alaska mitgebracht hatte. Irgendwas passte nicht.
Dabei war er doch an den Bereich gelangt, auf den er seit Monaten hingeschrieben hatte: das tragische Ende seiner weiblichen Hauptfigur, mit dem er die besondere Liebe zwischen ihr und seiner männlichen Hauptfigur über die bloße Funktion als Beziehungsgrundlage hinauswachsen lassen und verewigen wollte. Dabei war es ihm doch gelungen, sehr schön in Worte zu fassen, was die beiden füreinander empfanden. Ihm war inzwischen selbst erst richtig klar geworden, was diese Liebe auszeichnete: Beide hatten zuvor nur einseitige Verliebtheit mit wechselnden Partnern kennengelernt. Nun aber hatte sich der Funke beiderseitig entzündet, und damit erlebte jeder für sich, und sie erlebten gemeinsam eine neue Gefühlsdimension der Verbundenheit. Sie verstanden sich auch ohne zu reden, mussten sich einander nichts beweisen, das alles, aber noch ein Entscheidendes mehr. Es ist ja immer nur ein mehr oder weniger großer Selbstbetrug, zu meinen, man könne dem Liebespartner vertrauen; seinen beiden Hauptfiguren aber unterstellte Lothar Sahm, dass sie sich bei dieser besonderen Beziehung selbst vertrauten, egal mit welchem außerhalb der Beziehung stehenden Menschen sie es zu tun bekommen würden, und dass sie wussten, dass der andere sich in dieser Hinsicht selbst vertraute. Aber jedes Ende, das er für diese Liebe zurechtschreiben oder auch nur andenken wollte, sei es nun glücklich oder tragisch, still oder reich an Worten und Aktionen, kein wie auch immer ersonnenes Ende wurde von der Geschichte angenommen. Einmal mehr geriet seine Arbeit darüber ins Stocken.
Die Lösung, das erkannte Lothar Sahm, erfüllt von sachter Panik, konnte diesmal nicht in Abwarten bestehen. Euro für Euro tröpfelte ihm sein Vermögen vom Konto. Mit jedem Monat, der verging, verschwammen die Konturen der Zukunft, auf die er zuarbeitete, sie lösten sich schließlich auf, und sein einstweilen sicher geglaubter Erfolg verlor sich als bloße Vision in der Ferne seiner Träume. Seine Kurzgeschichten waren als Standbein weggeknickt: Inzwischen reagierten die Verlage schon nicht mal mehr mit Absagen.
Lothar Sahm verdichtete alle Konzentration und Zukunftshoffnung auf seinen Roman. Er harrte am Schreibtisch aus, zäh und verbissen, erlegte sich ein Soll an Seiten und Ideen auf, zwang sich dazu, verworfene Ansätze wieder und wieder zu durchdenken, sie miteinander zu kombinieren und damit gegenseitig neu zu befruchten. Er ging mit seinem Laptop in den Wald, weil er sich von im Wind wippenden Zweigen und wispernden Fichtennadeln Inspiration erhoffte. Er verstrickte seine Figuren in Alaska-Abenteuer, die weder zu ihrem Charakter noch zu der
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