Köhler, Manfred
Geschichte passten, sein Roman uferte dadurch aus und zerstreute sich in einem wild verästelten Gesprieße blind endender Ansätze. So ging das bis in den Mai hinein, aber mehr als einige Megabyte an fruchtlosen Vorstößen sammelten sich dabei nicht auf der Festplatte an.
Wie nun weiter? Dranbleiben bis zum letzten Cent und dann eben Untergang, das aufgeschobene Ende am kleinen Waldteich einlösen? Rechtzeitig arbeitssuchend melden? Wieder Redakteur werden oder sich mit Aushilfsjobs über Wasser halten? Alles schien möglich, nichts aber lockend, nur eine Möglichkeit schloss Lothar Sahm aus: Er würde lieber verhungern als bei der Rundschau um Arbeit zu betteln. Liane Czibull hatte ihr neues Layout durchgedrückt, ein wenig gewöhnungsbedürftig war es, aber von den meisten Lesern hingenommen worden, wie man hörte; von einem neuen Leitbild ließ sich nichts ahnen. Der Europäische Zeitungspreis und seine hohen Ehren waren an Wallfeld vorbeigegangen. Uwe Erben durfte sich, wie aus dem Impressum hervorging, nun wenigstens Volontär nennen. Ansonsten wusste Lothar Sahm nichts über seinen früheren Arbeitsplatz, nicht zu einem Kollegen von einst hatte er Kontakt.
Überhaupt pflegte er kaum noch Umgang mit anderen Leuten. Besuche bei seinen Eltern alle paar Monate mal, der wöchentliche Einkauf im Supermarkt nebenan – das war alles. Den Rest der Zeit verbrachte er in seinem Arbeitszimmer oder, seit es wärmer war, allein im Wald auf einer Bank mit seinem Laptop auf dem Schoß und war durchaus glücklich damit.
Sein erster Weg zurück in die Welt der Menschen führte ihn in die Stadtbücherei. Er hatte eine Veranstaltungsmeldung aufgeschnappt: Die bekannte Wallfelder Fotografin Ellen Frey würde am Freitag, den 17. Mai, um 18.30 Uhr ihre neue Fotoausstellung „Letzte Lebensjahre“ eröffnen. Diesem Termin ging er aus dem Weg, fürchtete er doch, dabei in die Lage zu kommen, Ellen Rechenschaft ablegen zu müssen über seine gegenwärtigen Lebensumstände: Jetzt bist du also auch Freiberufler / und, lohnt es sich, finanziell, meine ich / also eher nicht / siehst du, habe ich dich nicht eindringlich gewarnt / man darf sich das nicht zu leicht vorstellen // trotziges Beharren sahmerseits, das werde schon noch...
Auf einen solchen Dialog konnte er verzichten, aber die Fotos interessierten ihn. Ellen hatte nicht lange gebraucht, ihr Experiment zur öffentlichen Ausstellung zu machen: Die alte Frau war, wie aus dem Begleittext hervorging, in der Nacht zum 19. April gestorben, das letzte Motiv der Serie war eine Woche davor aufgenommen worden. Stand ihr der Tod darauf ins Gesicht geschrieben? Nur, wenn man sich das einbilden wollte, fand Lothar Sahm – eigentlich sah sie aus wie im Monat davor, wie im Monat davor und im Monat davor. Die Fotos damals im Wohnwagen miteinander verglichen zu haben, hatte ihn bewegt; die Ausstellung ließ ihn kalt. Ellen war begabt, ohne Zweifel, ihre Bilder hatten Ausdruckskraft, die Idee eben dieses Experiments übte einen Reiz aus, aber was ihn am Vorabend der ersten Reise daran verzaubert hatte, das suchte er nun vergeblich; Ellens Worte dazu, so wie er sie im Gedächtnis hatte, Niedergang und Bewahrung der Form und dergleichen, da sprach für ihn die Hobby-Philosophin, die vielleicht so manche Frage aufwerfen konnte, aber Antworten leider schuldig blieb.
So wenig er Zugang zu Ellens Ausstellung fand und dabei fühlte, dass er ihr mit seiner Ablehnung unrecht tat, so sehr genoss er den kleinen Ausflug in die Bücherei. Von da an kam er regelmäßig, er saß dann in einem Eck hinter einem Bücherstapel verborgen und las vor sich hin. Den Mund tat er selten auf dabei, nur ein gelegentliches „Hallo!“, wenn ein Bekannter vorbeikam: Wie geht es, lange nicht gesehen, was machst du denn so, was, freier Journalist, komisch, man liest gar nichts von dir...; es half ihm schon, wenigstens in der Nähe von Menschen zu sein, sie ein bisschen beobachten und ihren Gesprächen zuhören zu können. Vielleicht hatte er es übertrieben mit seinem Schreibfleiß und seiner totalen Sparsamkeit, vielleicht war die Ursache von Dürre und Erstarrung sogar in seiner Zurückgezogenheit zu suchen, sein wochenlanges Sich-im-Kreis-drehen darin, dass es eben keinen anderen Bezugspunkt in seinem Leben gab als nur ihn selbst.
Sich die Nähe menschlicher Gesellschaft in der Bücherei zu suchen, hatte den Vorteil, dass er hier kostenlos Zeitungen und Zeitschriften studieren, darin Anregungen für sein Buch,
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