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Köhler, Manfred

Köhler, Manfred

Titel: Köhler, Manfred Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irrtümlich sesshaft
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eine Woche vor der Feier, haben sie mir gesagt, der Krebs ist weg, nichts mehr festzustellen. Ein kleines Wunder, hat der Arzt gemeint. Da wurde mir erst mal klar, wie wenig die ihren eigenen Medikamenten trauen.“
    Ihm fiel noch ein Grund ein, warum er sie vergessen hatte, der Hauptgrund vermutlich: Er hatte keinen Anlass gesehen, sie sich zu merken. Er hatte sie kennengelernt und abgeschrieben. Sie war todgeweiht, daher hatte er sie nicht als jemanden gespeichert, dem man mal wieder begegnen könnte, und als er sie dann doch traf, da konnte es ihm gar nicht möglich sein, sie zu erkennen. Man sucht die Erinnerung an jemand, der einem lebend gegenübersteht, nicht in dem Schubkästchen, in dem man die Toten verwahrt.
    „Als ich es meinem Verlobten erzählte, ist der ganz still und ernst geworden, nicht mal bemüht hat er sich um ein bisschen Freude. Der hatte überhaupt nicht dran geglaubt, dass ich gesund werden könnte, noch schlimmer, er wollte längst nicht mehr mit mir zusammen sein und wollte die Hochzeit nur noch durchziehen, weil er dachte, er wird schief angeschaut, wenn er eine Sterbende im Stich lässt. Wir haben uns am selben Tag getrennt und seitdem nicht mehr gesehen.“
    Lothar Sahm spürte einen Stich in seinem Gemüt: nicht Mitleid – schlechtes Gewissen.
    „Es war gar nicht schwer, darüber hinwegzukommen, ich war so froh, gesund zu sein. Ich lebe seitdem ganz anders, ich... ach, das kann man nicht beschreiben. Ich beendete mein Studium, wollte mir gerade einen Job suchen, da ging es wieder los. Ich habe es lange ignoriert und mitgenommen was ich kriegen konnte, die Buchmesse damals, da war ich praktisch an jedem Stand, habe jeden Verleger, der mir über den Weg lief, auf eine Lektorenstelle angesprochen, habe fast jede Lesung mitgemacht, aber es kam halt dauernd vor, dass ich nach einer Stunde gehen musste. Ich bin dann doch endlich zum Arzt, vor einem Jahr etwa. Der gab mir noch fünf, sechs Monate und war damit einverstanden, dass ich es erst gar nicht noch mal mit einer neuen Chemotherapie versuche. Und jetzt lebe ich immer noch, fühle mich ganz gut, habe den Job bei Frau Guttler bekommen, der mir Spaß macht, und denke, vielleicht schaffe ich es noch einmal.“
    Lothar Sahm legte den Arm um sie.
    „Was denkst du?“
    „Ich denke, du schaffst es auf jeden Fall.“
    „Und was ist mit uns beiden?“
    „Was soll da sein?“
    „Ich meine, bleibst du bei mir, egal wie es kommt? Auch bis zuletzt?“
    „Natürlich bleibe ich bei dir.“
    Er sagte das mit Überzeugung und war sich dessen auch sicher, aber klang so unsicher, wie man nur klingen konnte. Sie sah so gesund aus, fühlte sich fest und stark an in seinem Arm, voll Kampfgeist schien sie zu sein und voll Entschlossenheit.
    „Weißt du was? Ich weiß es jetzt, und damit ist es erledigt. Wir reden einfach nicht mehr davon. Du wirst damit fertig.“
    „Ja, das denke ich auch. Und diesmal ganz und gar.“
     
    Sie verbrachten den Nachmittag miteinander und den Abend. Am nächsten Morgen löschte er seine Romandatei. Er löschte auch die Sicherungskopien von den Festplatten seines PCs und seines Laptops und alle Dateien mit verschiedenen Entwicklungsstadien der Idee. Seine handschriftlichen Notizen steckte er in den Schredder, mit seinen auf stabilen Karton gezeichneten Handlungsdiagrammen schürte er den Kamin an. Lothar Sahm gestand sich endlich ein, dass seine Geschichte gar nicht anders enden konnte als erbärmlich.
    Er und seine A., die in Wahrheit keine Migrantin war, sondern Andrea hieß, hatten zwar oft davon geträumt und sich gegenseitig damit aufgebaut, einfach zu verschwinden, alle Probleme hinter sich zu lassen, auszuwandern, in Amerika ein neues Leben anzufangen, aber das war ein romantischer Traum geblieben – sie waren nie gemeinsam aus Wallfeld herausgekommen. Er hatte sie bei einer Jahreshauptversammlung des Hausfrauenbundes kennengelernt, er war damals 30, sie 28 gewesen. Sie wirkte dort im Vorstand und verlas das Protokoll, eine öde Liste von Ausflugsfahrten und Rezepttauschaktionen, die ihm in diesem Augenblick gar nicht lang genug sein konnte. Sie hatte das Talent, die Aufmerksamkeit vom Gesagten ab- und auf ihre Persönlichkeit umzulenken. Sie redete mit den Augen, sie redete zu ihm mit ihrem Humor, mit ihren kleinen Randbemerkungen, die nicht wirklich witzig waren, aber ihn doch ständig schmunzeln ließen. Sie war ein Hausmütterchen durch und durch, und sie war ein gerissene Verführerin, sie konnte ihn

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